Filmvermittlung und frühes Kino

»Cinématographe Lumière – Kino vor 100 Jahren«
Kino-Geburtstag im Fernsehen

Von Stefan Pethke

1995 ist das Jahr des 100. Geburtstags der Kinematographie. Als Geburtsstunde wird eine Vorführung des Apparats Cinématographe Lumière ausgerufen: Antoine Lumière, Lyoner Hersteller von Photoplatten aus Glas, von Emulsionen und auch von Photopapier, hält am 22. März 1895 vor der versammelten Gesellschaft der »Société d'Encouragement pour l'Industrie nationale« in Paris einen Vortrag über die Industrie der Photographie. Bei der Gelegenheit führen seine beiden Söhne Auguste und Louis ihre Erfindung vor, die zu diesem Zeitpunkt noch »Kinétoscope (de projections)« heißt und die rasche Projektion kurz hintereinander photographierter Bilder vor einem großen Publikum erlaubt. Nach über einem halben Dutzend weiterer Demonstrationen in mehr oder weniger geschlossenen Kreisen kommt es unmittelbar vor Jahresende zu den ersten öffentlichen Darbietungen »lebendiger Photographien«.

[1]Beispielhaft für jene Stimmen, die sich einer Lumière-Idolatrie entgegen stellen, sei das Buch von Léo Sauvage genannt: L'affaire LUMIÈRE. Du Mythe à l'Histoire - enquête sur les origines du cinéma. Paris 1985

Ein Jubiläum wird festgesetzt, um es begehen zu können. Alle möglichen Einrichtungen weltweit versuchen mit ihren Initiativen, dem Ereignis gerecht zu werden und zu zeigen, dass sie sich in der Tradition der Lumière'schen Erneuerung sehen. Auch der Westdeutsche Rundfunk beteiligt sich an den Feierlichkeiten - die Filmredaktion des WDR stellt ihre Aktivitäten zwischen März und Dezember 1995 ganz unter das Motto »100 Jahre Kino«: Wiederveröffentlichungen und TV-Premieren, dazu mehrere filmkundliche Eigenproduktionen. Die siebenteilige Sendung Cinématographe Lumière - Kino vor hundert Jahren von Martina Müller ist aus diesem Fundus derjenige Beitrag, der sich direkt mit dem Entstehungsmythos dieser kulturtechnischen Umwälzung beschäftigt. (Man bemerke an der Formulierung des Titelzusatzes eine wesentlich vorsichtigere Haltung zur Datierung kinematographischer Anfänge [1]).

Die einzelnen Teile von Cinématographe Lumière sind jeweils um die 10 Minuten lang und wurden zwischen dem 20. März und dem 3. April 1995 erstmals ausgestrahlt, im Dritten Programm des WDR (der sich seinerzeit Westdeutsches Fernsehen nannte). Zusammen genommen versammeln sie knapp 70 Lumière-»Ansichten«, viele von ihnen annähernd in Originallänge (ca. 50 Sekunden). Diese Ansichten finden sich flankiert von zahlreichen Bildquellen des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts, von Gemälden und Stichen, von Plakaten und Zeitungstiteln, von Buchillustrationen und natürlich immer wieder von Photographien. Damit sind sie eingebettet in den größeren Zusammenhang einer zeitgenössischen Bildproduktion, der auch die frühe Kinematographie als eine Hervorbringung des neuen Zeitalters markiert. Sie wird Merkmal einer elektrifizierten Massenkultur, der die ihr vorangegangenen sozio-ökonomischen Entwicklungen und technischen Erfindungen die Bahn ebneten.

[2]s.auch Filmkritik Nr. 237, September 1976, Sonderheft »Das Goldene Zeitalter der Kinematographie« von Hartmut Bitomsky. Mitarbeit: Traudl Kühn, Werner Dütsch. Übersetzungen: Brigitte Baier

Die Autorin/Regisseurin Martina Müller behandelt ihren Gegenstand, indem sie auf Verfahren einer kompilierenden Kulturgeschichte zurückgreift - und auf Vorleistungen der WDR-Filmredaktion, insbesondere auf die beiden Mehrteiler Das Goldene Zeitalter der Kinematographie (drei Teile, 1976) [2] und Kultur-Revue (vier Teile, 1979) von Hartmut Bitomsky.

Auch der begleitende Kommentar besteht aus einer Auswahl von Zitaten, die vorwiegend von Zeitgenossen der Jahrhundertwende stammen, d.h. aus einer Montage. Eine weibliche Stimme (Regisseurin Martina Müller) und eine männliche (Redakteur Werner Dütsch) wechseln sich beim Vortrag der Zitate ab. Die Dialogstruktur unterstreicht zum einen den Montagecharakter der Textarbeit (statt ihn durch Einsatz lediglich eines Sprechers hinter einem Eigenständigkeit beanspruchenden Fließtext zu verbergen). Zum anderen verlebendigt sie die Vergangenheit: Widersprüchliches steht nebeneinander, eine Alltagsgeschichte mit oft naiven Beobachtungen erhält den Vorzug vor einer konventionellen Geschichtsschreibung der großen Namen und wichtigen Daten. Dazu passt die Tatsache, dass Müller -von drei Ausnahmen abgesehen- keine ihrer Textquellen kenntlich macht, weder im Film, noch in einem der sieben Abspänne. Das macht einerseits neugierig, andererseits verhindert es raunenden Bedeutungskonsum, worunter eine Rezeptionsgeste zu verstehen ist, die die autoritär durch berühmte Zeugenschaft als Wahrheit verfügte Information gewissermaßen als gesichertes Wissen end-verbraucht, statt sie als Zulieferung für einen selbst gesteuerten Bildungsprozess weiter zu verarbeiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz der Musik: Obwohl genauso wenig über deren Herkunft mitgeteilt wird wie über die der Texte, hört man aus den eingesetzten Stücken deutlichen Zeitbezug heraus.

Die Polyphonie, in der hier alle Materialien mit- und aufeinander wirken, bringt nicht nur Komplexitätsgewinn ein, sie vermittelt auch ein Stimmungsbild von Positionsvielfalt innerhalb eines emanzipierten Bürgertums. Das gesammelte Material ist wenig hierarchisch organisiert. Auch wenn von den Bildern ausgegangen wird, empfinden die Sendungen in ihrer scheinbar sprunghaften Aneinanderreihung das lockere Durcheinander der ersten Filmprogramme nach: Die Bild-vermittelte Bewegungsillusion an sich ist die Attraktion, das Staunen darüber die Grundlage ihres kommerziellen Erfolgs. Gleichwohl besitzt Müllers Sendung eine klare Gliederung. Ohne mit Kapitelüberschriften oder anderen expliziten Unterteilungen zu verfahren, ordnet Müller den einzelnen 10-Minütern deutlich zu erkennende Unterthemen zu.

[3]»Wenn in dem Saal, in dem die Erfindung von Lumières gezeigt wird, die Lichter ausgehen, erscheint plötzlich auf der Leinwand ein großes graues Bild, eine Straße in Paris - Schatten eines schlechten Stiches. Blickt man genau hin, sieht man Pferdefuhrwerke, Gebäude und Menschen in verschiedenen Haltungen, alles in Bewegungslosigkeit erstarrt. Alles das in Grau und der Himmel darüber ebenfalls grau - Sie erwarten nichts Neues von dieser allzu vertrauten Szene, haben Sie doch Bilder von Pariser Straßen mehr als einmal gesehen. Aber plötzlich fährt ein ungewohntes Flackern über die Leinwand, und das Bild regt sich zum Leben.« (I.M. Pacatus (i.e. Maxim Gorki) in: Nishe gorodske Listok. Nr. 182; Nishnij-Nówgorod, 4. Juli 1896; zit. nach: WDR (Hg.): Cinématographe Lumière - Kino vor hundert Jahren. Begleitheft zur gleichnamigen siebenteiligen Sendung von Martina Müller. Textauswahl u. Übersetzungen: Martina Müller. Redaktion: Werner Dütsch. Köln 1995. S. 51)

Die erste Sendung widmet sich den ersten Reaktionen auf die ersten Vorführungen. Wie diese frühen Projektionen, so beginnt auch der ganze Sendungszyklus mit einem eingefrorenen Bild, hier von Wellen-umspielten Felsen am Meer [3].

[4]»Lors de la rétrospective Louis Lumière à la cinémathèque francaise, en 1966, Jean-Luc Godard se livrait à une véritable réhabilitation. Inventeur et industriel, Louis Lumière devenait enfin un cinéaste (...) Un an plus tard, dans La Chinoise, le personnage joué par Jean-Pierre Léaud, n'hésite pas à affirmer que Lumière était ›un peintre‹, en fait ›le dernier peintre impressionniste‹ (...) Dans le musée imaginaire que forme Histoire(s) du cinéma de Godard, [ist zu hören] ›[…] qu'avec Edouard Manet / commence / la peinture moderne / c’est-à-dire / le cinématographe... ‹.« (Sylvie Ramond, in : »Impressionisme et la naissance du cinématographe«. Katalog der gleichnamigen Ausstellung des Musée des Beaux-Arts de Lyon (in Kooperation mit dem Institut Lumière) vom 15.4. bis zum 18.7.2005. S. 316f)
[5]Zufall? Antoine Lumière (sitzend rechts), Nadar (sitzend links)

Gleich zu Beginn findet eine Parallelisierung mit der Malerei des Impressionismus statt: Ein Ausschnitt aus einem Monet-Gemälde zeigt ebenfalls das Motiv von Felsen im Meer. Über weitere sehr pastose, Dynamik und Materialität betonende Details aus anderen Bildern wird auf eine Verwandschaft in den Ansätzen, mithin auf das moderne Weltbild beider Abbildungssysteme hingewiesen: Motive von Urbanität und industrieller Produktion in Architektur und in Gestalt der Lokomotive [4]. Wir erfahren von dem engen Zusammenhang zwischen den Impressionisten und der Photographie, der durch einen bezeichnenden historischen Zufall [5] um die Kinematographie erweitert wird: Ganz in der Nähe vom Atelier des berühmten Photographen Nadar, wo die Impressionisten mangels Akzeptanz durch den akademischen Kunstbetrieb 1874 ihre erste Gruppenausstellung abhielten, im Grand Café auf dem Pariser Boulevard des Capucines Nr. 14, fand rund 20 Jahre später, am 28.12.1895, die erste öffentliche Vorführung von Lumière-Filmen statt. In einer der ganz seltenen für diesen Beitrag gedrehten Szenen, die NICHT alte Bilddokumente zeigen, sehen wir eine junge Café-Angestellte schweigend die Tischdecke einer großen Tafel in jenem Kellergeschoss glattziehen, das früher die Zuschauer der ersten Lumière-Filme in Paris beherbergte. Mit ihrer altmodischen Kellnerinnen-Uniform könnte sie selbst einem Manet-Bild entsprungen sein. Ein Leuchtdioden-Band erklärt den Ort zum Salon Louis Lumière. Vor Kurzem hat hier eine Schulung stattgefunden – ein Overhead-Projektor steht noch immer herum. Ein Geschäftspartner von Stollwerck schrieb dem Kölner Schokoladenfabrikanten und Automatenaufsteller von dieser ersten öffentlichen Aufführung von Lumière-Filmen, der den Cinématographe Lumière daraufhin sofort konzessionierte. Wir sehen verschiedene Aufnahmen von Köln und erfahren bei der Gelegenheit, dass Stollwerck nur wenig später in der Stadt das erste deutsche Kino aufmachte.

Dieser überraschende Deutschland-Exkurs leitet über zu betriebswirtschaftlichen Rahmendaten des Unternehmens Lumière, was den Kinematographen betrifft: Der Apparat wird nicht veräußert, sondern es werden Nutzungslizenzen vergeben. Um die 100 Operateure werden in aller Herren Länder geschickt, um Filme vorzuführen, die Einhaltung der Lizenzauflagen zu überwachen und um »Bilder der Welt« zu drehen und nach Frankreich zurück zu schicken. Sechs Monate nach Aufnahme ihres Geschäftsbetriebs mit dem Cinématographe hat die Firma Lumière über eine Million Francs eingenommen. Der erste Teil endet mit einer Coolies in Saigon betitelten Aufnahme.

[6]Meist wird die in Müllers Sendung gezeigte Version Arroseur arrosé genannt - und das ist falsch. Es handelt sich um die 1895 gedrehte Aufnahme Le jardinier et le Petit Espiègle, die in keinem Catalogue Lumière numerisch erfasst ist. Zwischen 1896 und 1897 entstand eine zweite Version des Streichs, katalogisiert unter der Nummer 99. Diese trägt den berühmten Namen, weist aber eine gänzlich andere Bildkomposition auf; s. Vincent Pinel: Louis Lumière - inventeur et cinéaste. Paris 1994. S.42f.

Die zweite Sendung reißt Grundfragen einer filmischen Ästhetik an: Ausgehend von einer kleinen Entstehungsgeschichte eines der bekanntesten Lumière-Filme, der einen Gärtner als Opfer eines klassisch gewordenen Jungenstreichs zeigt (Gärtner gießt Blumenbeet mit Schlauch - Junge tritt auf Schlauch - Gärtner guckt in die Spritze - Junge hebt den Fuß wieder - Gärtner spritzt sich selbst mit Wasser voll [6]), bekommen wir einen Eindruck davon, wie sich die Filmherstellung inspirieren lässt von im Umlauf befindlichen Miniatur-Erzählungen und ihrer Darstellung durch andere Massenproduktionsbilder (hier die Druckerzeugnisse Plakat bzw. Bildergeschichte in der Zeitung).

Die Lumières werden immer wieder besprochen im Hinblick auf die strenge kompositorische Einheit ihrer Bilder, auf ihr Bewusstsein für Bildgrenzen und auch für die zeitliche Begrenzung der maximal 50 Sekunden lange Aufnahmen gestattenden Filmrolle (ca. 17 – 20 Meter 35mm-Film). In einer stark vereinfachenden Filmgeschichtsschreibung gelten sie als Vorboten des Dokumentarischen. Wie problematisch diese Engführung und der Begriff des Dokumentarischen selbst ist, macht das Beispiel vom »begossenen« Gärtner mit seinen offensichtlichen, heute etwas hölzern befolgt wirkenden Regieanweisungen anschaulich.

Die starren Aufnahmen eines Stierkampfes schneiden ein anderes Lieblingsthema von Filmtheorie und -geschichtsschreibung an, die Montage: Um eine maximale Anzahl an spektakulären Bewegungen auf seinem kurzen Film bannen zu können, hat hier der Operateur immer dann die Kamera ausgeschaltet, wenn die Aktion aus dem einmal eingerichteten Bildfeld heraustritt. Er schneidet, wie man sagt, in der Kamera.

Das Thema wird mit der Erörterung des Kamerastandpunktes vertieft: Zu begeisterten Zeitzeugenberichten, die sich alle einig sind über das enge Verhältnis von Apparat und abgebildeter Welt - die beispielsweise die Aussicht feiern, der Natur ihre letzten Geheimnisse entlocken zu können - sehen wir u.a. die Sequenz einer auf ein Segelschiff des Nils gestellten Kamera, die ein Palmen-bestandenes Ufer an unserem Auge vorbeigleiten lässt.

[7]Zur Montage in frühen Lumière-Filmen: »Confrontés à un dispositif contraignant et à une longueur de pellicule fort limitée (le fameux 17 mètres des Lumière, soit 50 secondes), les cinématographistes furent nombreux à contrevenir aux règles, à manipuler et fragmenter la bande. En effet, l'arrêt-manivelle, ce que nous appelons ici la reprise, était largement pratiqué dès les tout premiers tournages.«. (Les prémices du montage au cinéma (1890-1903) - Fragmentation de la bande et segmentation du filmage dans les »vues animées«. Forschungsarbeit unter der Leitung von André Gaudreault (Université de Montréal). Mitarbeiter: Jean-Marc Lamotte et.al.; unter cri.histart.umontreal.ca (engl. unter cri.histart.umontreal.ca ; beide Versionen 27.5.2008). Ausführlicher hier: Francois Albera/Marta Braun/André Gaudreault (Hg.): Arrêt sur imagee, fragmentation du temps (Stop Motion, Fragmentation of Time). Lausanne 2002. S.225 - 245.

Kamerastandpunkt, Einstellungswechsel und »Schnitt« werden anhand eines weiteren Ägypten-Bildes diskutiert: Die Aufnahme von zwei Europäern, die sich auf einem Schienenwagen erst in der einen Richtung, dann in der anderen über einen Damm schieben lassen, zeigt eine minimale Bildverschiebung, vermutlich als Ergebnis eines großen Gedränges zwischen Wagen, anderen Passanten und einer Herde Esel. Die Sendung zeigt mit angehaltenem Bild und gegenüberstellenden Wiederholungen, dass hier nicht nur »in der Kamera geschnitten«, sondern zwischen den daraus resultierenden zwei Aufnahmen die Position der Kamera verändert wurde [7]. Der Kommentar schließt sich Ursprünglichkeitsspekulationen an, die jedes Jubliläum begleiten, und vermutet Erstleistungen.

Eingeleitet über Bilder der Pyramiden und der Sphinx im Vordergrund kippt der Ton der Kommentare langsam von Euphorie ins Unheimliche: Noch wird die Möglichkeit einer amateuristischen Breitenbewegung bejubelt, wonach bei günstigerem Anschaffungspreis und vereinfachter Handhabung bald jedermann seine Vorfahren wieder aufleben lassen könne. Über die Aufnahmen eines Beerdigungszugs in Kairo legt sich schließlich ein sehr skeptischer Text von Maxim Gorki, der von einem Königreich der Schatten, von Schatten des Lebens, von einem Gespenst spricht und den das Grau der Bilder und ihre Geräuschlosigkeit offensichtlich abstößt. Gorki ist die erste von drei Ausnahmen, die der Film mit einer eindeutigen Autoren-Zuschreibung macht. Dazu sehen wir das einzige Mal in allen sieben Teilen, dass ein Lumière-Film ein zweites Mal Verwendung findet: Die Ankunft des Zuges in La Ciotat.

Zu dem Film Démolition d'un mur, der zeigt, wie Arbeiter auf dem Gelände der Lumière-Fabrik eine Mauer einreißen und der auch höufig rückwärts vorgeführt wurde (eine Operation, die die Sendung imitiert), ist endgültig, wenn auch eher belustigt von Zauberei die Rede.

Der zweite Teil endet mit einer weiteren gleitenden Kamerafahrt; aus einem Zugfenster heraus fällt der Blick auf eine verschneite Landschaft, die im Nachhall der düsteren Worte wie eine symbolische, wie eine Seelenlandschaft wirkt.

Die dritte Sendung verhandelt das Thema Arbeit, sowohl als häufig wiederkehrendes Sujet zahlreicher Lumière-Filme, als auch im unternehmerischen Zusammenhang.

Der Kommentar vergleicht durchschnittliche Eintrittspreise mit durchschnittlichen Löhnen und stellt lapidar eine Diskrepanz zwischen den gefilmten Arbeitern und dem typischen Zuschauer dieser Filme, einem großstädtischen bürgerlichen Publikum fest.

Arbeit wird viel gefilmt (Streik nie): Wir sehen die Aufnahme von Frauen in einer Glashütte bei Lyon, die staubiges Gestein verladen, unter der Aufsicht eines Kontrolleurs mit Kreissägen-Hut.

Damit kommt die Sendung zu einer der berühmtesten Lumière-Einstellungen, der Sortie de l'usine (auf deutsch: Arbeiter verlassen die Fabrik). Im Vorfeld dazu ist zu hören, dass es nicht viele Bilder aus der Lumière-Fabrik gibt. Die Lumières gehörten zu den größten europäischen Photobedarfsherstellern, ihr Hauptgeschäftsbereich blieb die Produktion von photographischen Glasplatten, von Fotopapier und Emulsionen - da galt es, Fabrikationsgeheimnisse zu hüten. Louis und Auguste Lumière waren, so heißt es, nicht nur geniale Erfinder, sondern auch kluge Kaufleute. Passenderweise steht die Kamera bei diesem Film nicht AUF dem Fabrikgelände, sondern DAVOR.

[8]Vincent Pinel: Louis Lumière - inventeur et cinéaste. Paris 1994. S. 30ff
[9]»`La sortie de l’usine`:film: … war bereits der erste ›Remake‹ der Filmgeschichte. Als der Film nicht mehr zu gebrauchen war, wurde er einfach noch einmal gedreht …«. (zit. nach: Eva Hohenberger: Die Wirklichkeit des Films – Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch. Hildesheim, Zürich, New York 1988. S. 13f)

Die Sendung zeigt drei verschiedene erhaltene Versionen der Szene und erörtert ihre Unterschiede anhand von Differenzen in der Kleidung und dem Blattbewuchs eines Baums, dessen Schatten in das Bild ragt: Der Film ist zu verschiedenen Jahreszeiten wiederholt aufgenommen worden [8]. Es handelt sich gewissermaßen schon um »Remakes« [9].

Diese Sequenz ist von Müller mit erhöhtem Aufwand ins Bild gesetzt: Wie auf einem Kontaktabzug sind drei vertikale Filmstreifen nebeneinander zu sehen. Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)

[10]Auch eine Ausprägung der Hundertjährigkeit des Kinos und Engagement-Nachweis einer Kulturnation : »Aujourd’hui le décor du premier film est sauvé et abrite une salle de cinéma de 270 fauteuils. Là où sortirent les ouvriers et les ouvrières de l’usine, les spectateurs vont au cinéma, sur le lieu de son invention.« (Text- u. Bildquelle: www.institut-lumiere.com>Patrimoine Lumière>Hangar du Premier film (27.5.2008)) |müller_cinlumFN_06:img:` `müller_cinlumFN_07:img:` `müller_cinlumFN_08|

In diese analoge Split-screen-Anordnung zoomt die Kamera nun hinein, isoliert ein größer werdendes Einzelbild, das ins Laufen kommt, sobald es den Rahmen ausfüllt. Der Kommentar weist auf die zahlreichen »Regie-Einfälle« hin, auf scherzhafte Gesten, auf singuläre Vorkommnisse, auf Moden. Dazu wird auch Zeitlupe eingesetzt. Schließlich friert das Bild wieder ein, während der Text über diese Mikroinszenierungen meditiert: Sie brächten eine Art Ungeduld des Kinos zum Ausdruck, das es nicht aushalten könne, der Welt einfach nur zuzuschauen [10].

Es folgen Photos aus der Arbeitswirklichkeit der Lumière-Fabrik. Hier arbeiten hauptsächlich Frauen, hauptsächlich mit Glas. Es gibt eine Erste-Hilfe-Einrichtung im Betrieb, eine Rentenversorgung; auf einem Photo ist Zahltag, ein Schild gebietet Schweigen.

Der dritte Teil endet mit einer Fahrt über ein Belegschaftsphoto: fast alles Frauen, alle in grauem Drillich, die übergroße Mehrheit hat die langen Haare zu einem Dutt auf dem Kopf zusammen geknotet.

Die vierte Sendung hängt etliche Kinder-Aufnahmen zu einer Motivkette zusammen und macht anhand dieser spezifischen Bildgruppe eine Reise aus dem Schoß der Familie in die weite Welt hinaus. Muster verfestigen sich zu Abbildungs- bzw. zu Interpretationsstandards.

Zunächst geht es um die Reaktionen des heimischen Publikums. Die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen für Hintergrunddetails wirkt beinahe übertrieben: Es werden Einzelheiten bestaunt -vom Wind bewegte Blätter oder Lätzchen-, die mit der »Haupthandlung« wenig bis gar nichts zu tun haben.

Marcel Koehler, Neffe der Lumières, den der Kommentar einen routinierten Hauptdarsteller vieler Lumière-Filme nennt, ist einmal zu sehen, wie er seine Cousinen mit Trauben füttert, ein weiteres Mal, wie er mit ihnen Reigen tanzt und einige Purzelbäume schlägt. Auch hier ist das Vor-Arrangierte, das Erzwungene nicht mehr zu übersehen. Trotzdem taugen diese Bilder mit ihrer etwas aufgesetzten Bewegungslust sehr gut zur kontrastierenden Erörterung einer zu der Zeit ebenfalls noch recht jungen Porträtphotographie und ihren rabiaten Ruhigstellungstechniken.

Ein Kurzausflug zum Thema des Privaten: zwei Einstellungen von Auguste Lumière mit seiner kleinen Tochter und einem Goldfischglas sowie der begleitende Text deuten den Aspekt von Privatheit als Luxus an, beides Kategorien aus dem Weltbild einer aufsteigenden industriellen Bourgeoisie.

Danach wird es wieder öffentlich und international/imperial: Ein afrikanisches Baby wird gewaschen und was nicht wirklich zu sehen ist, sondern durch den Text vermittelt wird: die pittoreske Szene spielt sich auf einer großen Ausstellung in Lyon ab, in einem künstlichen Ashanti-Dorf.

Darauf folgt die nächste neu gedrehte Sequenz: Eine Mitarbeiterin des Archivs von Bois d'Arcy, wo sämtliche der ca. 2000 erhaltenen Lumière-Filme bewahrt werden, zeigt einen Streifen Negativ-Film aus Papier in die Kamera. Darauf seien Kinder zu sehen, die auf der Straße spielen.

Über London und New York geht es schließlich in die französischen Kolonien: In Algerien werden Kinder von einheimischen Erwachsenen wie Regie-Assistenten hin und her gescheucht - Film als Dokument der eigenen Inszenierungsarbeit. In Indochina werfen zwei europäische Damen, als sähten sie Kapital, Geldmünzen auf die Straße, um die sich eine ganze Schar von Kindern balgt.

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)

Der letzte Film des vierten Teils zeigt, dass es auch in den Kolonien Fabriken gibt: Wieder steht die Kamera vor dem Ausgang - einer Ziegelei diesmal -, doch diesmal herrscht kein amüsiertes Treiben. Es ist Zahltag: Jeder der zum Teil sehr jungen Arbeiter nimmt schweigend eine Handvoll Geld in Empfang und verlässt das Bild.

Den beiden ersten Einstellungen der fünften Sendung, zwei sehr urbanen Aufnahmen, sind dann wieder eher grüblerische Aussagen unterlegt. Zunächst ziehen jede Menge Städter auf einer Art elektrischem Steg an der Kamera vorbei. Eine irritierende doppelte Bewegung - und erst die rückversichernde Orientierung an im Hintergrund nicht von der Stelle rückenden Häuserfassaden verschafft die Gewissheit, dass sich wirklich nur das Menschen-Fließband von links nach rechts durch das Bild schiebt und nicht etwa die Kadrage selbst ins Rutschen gekommen ist. Danach im Aufzug des Eiffelturms: Ebenso automatisch animiert wie in der Einstellung auf dem horizontalen Steg, nur ohne deren verwirrende Belebtheit, dafür umso einsamer, verlorener, entschwebt der Blick in der Vertikalen nach oben. Von neuen Verhältnissen ist die Rede, die das Kino ankündige, verlockend und beängstigend zugleich. Wenn im nächsten Ausschnitt die Kamera auf dem letzten Eisenbahnwagon eines fahrenden Zuges steht und nach hinten in eine links und rechts in die Ferne reißende Vorort-Landschaft hinein filmt, dann kann einem schon Benjamins Engel der Geschichte als Operateur dieser Einstellung in den Sinn kommen. Das nächste Zitat, das einen Autor haben darf, sagt, dass die Eisenbahn Zeit und Raum tötet. Es stammt von Heinrich Heine aus dem Jahr 1841, und wenn er, gleich wieder etwas beschwingter, die deutschen Gefilde förmlich schon in Paris riechen und hören kann angesichts der technologischen Verheißungen, so haben wir doch gemerkt, was der Ausspruch hier bezweckt: Er bedeutet uns, dass sich in der Kinematographie veränderte Weltwahrnehmung in Folge vervielfachter Reisegeschwindigkeiten nicht nur bloß ausdrückt, sondern vielmehr, dass die Kinematographie diese Veränderungen selbst betreiben wird, in einer Zukunft, die heute schon Vergangenheit ist.

In zwei Schritten wendet sich die Sendung wieder einer Vorwärtsbewegung zu: Weißer Rauch nebelt das Bild einer -immer noch nach hinten gefilmten- Tunnelausfahrt ein. Es folgt ein seitlicher Fensterblick, mit dem wir in den nächsten Tunnel einfahren. Das Schwarz nutzt Müller zu einem Umschnitt, mit dem das Bild zurückkehrt zur Zugführer-Perspektive - bis es abermals in einen alten, gemauerten Tunnel geht. Erneuter Schnitt: Eine in der Jetzt-Zeit dieser Sendereihe gedrehte Fahrt wiederholt diesen Bildaufbau, indem sie sich einem anderen Rundbogen nähert, dem Eingang zur alten Militärfestung von Bois d'Arcy bei Paris, dem Ort, an dem die Lumière-Filme gelagert werden.

Hier beginnt, auf spielerische Weise, die große didaktische Sequenz der siebenteiligen Sendung, eine Art Herzstück:

Ein älterer Herr, Michel Contour, führt Schritt für Schritt den 100Jahre alten Cinématographe Lumière vor, indem er einen echten Film wirklich belichtet. Ihm gegenüber nimmt die Regisseurin Martina Müller Aufstellung, mit einer großen, brandneuen Hi8-Video-Kamera. Müller und Contour filmen sich gegenseitig - eine Totale setzt beide wie zwei Film-Duellanten im Profil ins Bild; an ihnen gehen einige Archiv-Kollegen Contours vorbei, offensichtlich dazu angeleitet. Wenn Contour die dreifache Funktion des Cinématographe Lumière als Kamera, Kopiermaschine und Projektor erklärt, sehen wir schon in einem TV-Monitor das bewegliche Video-Bild Müllers, das sich auf Contour zubewegt und schließlich um 90 Grad nach rechts zum Fernsehteam schwenkt: die dritte Aufnahmeapparatur in dieser Anordnung. Ein »Gegenschuss« drängt sich an dieser Stelle auf und tatsächlich schaut jetzt eine komplementäre Totale dem Fernsehteam Müllers beim aktiven Zuschauen zu.

Am Ende des fünften Teils bekommen wir das belichtete und entwickelte Material des Cinématographe Lumière zu sehen, vom Cinématographe Lumière projiziert: Wir sehen, wie sich Müller mit ihrer Video-Kamera bewegt, während die Cinématographe Lumière-Einstellung starr bleibt. Die Archivare laufen links und rechts an beiden vorbei: Arbeiter des Bewahrens spielen die Rückkehr an den Ort ihrer Tätigkeit.

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995) :img:` müller_cinlum_010

Die sechste Sendung dreht sich um frühe Darstellungsformen des Politischen - und um Werbung im Film! Sie beginnt mit einer Parade in Frankfurt a. M. zum 25. Jahrestag des Deutsch-Französischen Friedens. Für die Kinematographie stellt sich einmal mehr die Frage des richtigen Standpunkts, d.h. derjenigen Perspektive, die das Ereignis auch filmisch mit der gewünschten Bedeutung aufzuladen imstande ist. Wenn die Beamten des Protokolls den Blick verstellen auf die herausragenden Persönlichkeiten des politischen Lebens –in diesem Fall auf Wilhelm II und seine Gattin-, dann ist die Aufnahme misslungen.

Als anlässlich eines Staatsbesuchs des französischen Präsidenten beim russischen Zaren ein Tross von Journalisten gefilmt wird, gönnt sich Müller einen medienkritischen Scherz: Sie entdeckt in der Aufnahme eine bis heute aktuelle Lieblingsbeschäftigung der Berichterstatter mit sich selbst und vertont die Passage mit einer Tonparodie, dem cartoonesk ins Kümmerliche verzerrrten Anfangstusch der ARD-Tagesschau.

[11]Kurze biographische Notiz zu Promio von Luke McKernan hier: http://www.victorian-cinema.net/promio.htm (27.5.2008)

Einen der wenigen bekannten Lumière-Operateure, Alexandre Promio [11], hören wir zitiert vom sich wechselseitig bedingendem Repräsentationsbedürfnis von Politik und Kino berichten: Promio erzählt die Anekdote, wie es ihm gelang, die Polizei von Chicago nach seinen Anweisungen mit 500 Mann vor der Kamera auf- und abdefilieren zu lassen. Zwei weitere Zugeinstellungen aus Jerusalem bzw. Jaffa -eine Abfahrt und eine Ankunft, ebenfalls von Promio gedreht- bestätigen diesen Zusammenhang: Wir erfahren, dass einerseits das osmanische Reich großes Misstrauen hegte gegenüber allen mit Kurbeln versehenen Geräten aus dem Westen (möglicherweise Ausdruck einer Waffenangst, die durchaus nicht von der Hand zu weisen ist, bedenkt man die viel besprochenen technologischen Verwandschaftsverhältnisse, die dieses Jahrhundert der Maschinenentwicklungen auf mannigfaltige Weise gestiftet hat, eben auch zwischen Filmkamera und Maschinengewehr). Andererseits sehen wir Fez-bemützte Polizisten auf einem überfüllten Bahnsteig für den Cinématographe Lumière eine schöne Sichtschneise zwischen einfahrendem Zug und der wartenden Menschenmenge freisperren.

[12]

Auf der Internet-Seite des Institut Lumière finden sich dazu folgende Zahlen: »En héritage de cette aventure, il ne nous reste pas moins de 1408 films du catalogue sur 1428 répertoriés, cas unique à signaler pour une production des premiers temps du cinéma, auxquels plus de 600 autres films hors listes viennent s’ajouter.«; zit. nach Institut Lumière (27.5.2008).

Es folgt ein Block über frühes Product Placement, eingeleitet von Bemerkungen über das Vertriebssystem der Lumière-Filme: Von Anfang an waren alle Filme in einem Katalog erfasst, nach bestimmten Ordnungskategorien gegliedert. In diesem System erhielt jeder Film einen Titel und eine Nummer [12]. Die Nummer 125 zeigt die Beladung eines Schiffs in der Kurstadt Evian. Am Kai stehen gestapelt ein paar Holzkisten, auf denen deutlichst der Aufdruck »Evian« zu sehen ist - reale Geschäftsbeziehungen bekommen ein Bild: In der Tat verkauften die Wasserhersteller ab 1897 den Cinématographe Lumière, nachdem die Lumières das Monopol für ihren Apparat aufgegeben hatten.

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)

[13]

Mehr zu Lavanchy-Clarke von Roland Cosandey hier (u.a. zu den Verbindungen der Lumières zu Stollwerck und zur englischen Firma Lever bzw. zum expliziten Werber-Ehrgeiz): victorian-cinema.net (27.5.2008)

Wer die Filme im Einzelnen gedreht hatte, galt als nebensächlich und ist in der Regel nicht überliefert. Film Nummer 60 - Wäscherinnen - stellt eine Ausnahme dar: Der Schweizer Handelsvertreter des Waschmittels Sunlight (aus dem später in Deutschland "Sunlicht" werden wird), François-Henry Lavanchy-Clarke [13], ist gleichzeitig Konzessionär für den Cinématographe Lumière. Im laufenden Film sieht man ihn kurz für eine Regieanweisung den Bildausschnitt betreten. Auch Lavanchy-Clarke hat es für nützlich befunden, zwei Kisten desjenigen Produkts ins Bild zu rücken, dessen Verkauf seine Haupttätigkeit ausmachte. Genuine Kinowerbung!

Viele der nicht erhaltenen Lumière-Filme sind dennoch erfasst, und zwar in Form von photographischen Abzügen, die den Filmstreifen wie auf einem Kontaktbogen abbilden. Der Kommentar bezeichnet dieses Photo-Archiv als veritables Filmlexikon der Jahrhundertwende.

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)

Auf einem Bogen sehen wir drei verschiedene Filmstreifen mit einem der Lieblingsmotive des Lumière'schen Bilderfundus: das Militär.

Es zeugt von Müllers kompositorischem Feingefühl, dass der sechste Teil mit einem Potpourri von Militäraufnahmen endet und damit eine Schließungsklammer setzt zur Thematik des Politischen (womit dieser Teil eröffnet worden war). Auch die Abfolge der nun zu sehenden fünf Militärszenen bleibt komponiert. Sie ist nach dem Prinzip der einfach geschlossenen Form gebaut, die so charakteristisch für die Lumière’sche Standard-Dramaturgie war: Der erste Ausschnitt lässt eine Kompanie Dragoner in den Vordergrund reiten, absteigen und die Gewehre auf die Kamera anlegen. Danach läuft ein amerikanischer Panzerkreuzer an der Côte d'Azur aus, den Bildausschnitt von gegen die Leserichtung durchquerend - Ankünfte und Abfahrten: die »kinematogenen« Auf- bzw. Abtritte der gigantischen Maschinen auf der Bühne des Industrie-Zeitalters; allein das Wort »Panzerkreuzer« lässt an Filmgeschichte denken... Der dritte Ausschnitt zeigt Routinearbeit: Wir schauen einer Kolonne Matrosen beim Schrubben des Decks zu. Dann ist die Explosion eines Holzschiffes -häufiges Motiv in Gemälden von Seeschlachten- zu sehen. Der Einschlag in die Wasseroberfläche der erstaunlich lange niederregnenden Wrackteile ist von befremdlicher Schönheit. Für die letzte Einstellung dieses Segments kehren wir schließlich zurück an Land: Bergjäger mit Marschgepäck ziehen in den Bildhintergrund und liefern ein bald typisch werdendes Film-Schlussbild.

Die siebte und letzte Sendung des Cinématographe Lumière-Zyklus zentriert sich um einen ersten Bruch in der jungen Geschichte der Kinematographie, ausgelöst von einem verheerenden Brand auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung .

Begonnen wird mit einer Sequenz von Filmausschnitten, die noch einmal die wichtigsten Motivstandards der Lumières in Erinnerung ruft: das Private-Pittoreske-Kindliche, die Arbeit und der urbane Verkehr, ein sich im Wellengang hebender und senkender Schiffsbug, Menschenmassen am Arc de Triomphe und andere militärische und zivile Zusammenkünfte. Der Kommentar resümiert, dass das wohlhabende Bürgertum bis hoch zum Adel das Publikum der Lumière-Filme -und oft genug seine Protagonisten- stellte, das Fundament ihres kommerziellen Erfolgs.

Auf einen Film von unschuldig in Sandhaufen spielenden Bürgertöchtern folgt eine Einstellung, in der nacheinander vier Feuerwehr-Gespanne auf die Kamera zu- und recht knapp rechts an ihr vorbei rasen: eine richtige Suspense-Montage! Das passende »Anschluss«-Bild von Löscharbeiten vervollständigt die Anspielung auf heute übliche Verfahren, Spannung in einem Film per Schnitt aufzubauen. Es leitet Schilderungen vom tragischen Ausgang des Bazars de la Charité am 14. Mai 1897 ein: Flankiert von etlichen nicht-filmischen Zeitzeugen-Bildern (u.a. wird in einer alten Zeitung geblättert) erfahren wir, dass dem Feuer auf der Veranstaltung 120 Menschen zum Opfer gefallen sind, in der Mehrzahl Frauen und Kinder der gehobenen Gesellschaft (darunter auch die Schwester der Kaiserin von Österreich, die Herzogin von Alençon, aber nur sechs Männer...).

[14]Weniger monokausal: »… ein vorübergehendes Desinteresse des Publikums infolge der gleich bleibenden Thematik provozierte zusammen mit einigen Kinobrandkatastrophen bereits wenig später die erste Krise…«; zit. in: Günter Peter Straschek: Handbuch wider das Kino. Frankfurt a.M. 1975. S. 206

Brandursache: die Explosion einer Ätherlampe bei einer Kinovorführung. Der Schock sitzt tief, die feine Welt kehrt dem Kino den Rücken. Obwohl im Bazar de la Charité keine Filme der Lumières gezeigt wurden, sind sie von der unmittelbar einbrechenden Kino-Krise natürlich mit betroffen [14].

[15]Die Auswahl folgt dem Beispiel des Bildbands von Jacques Rittaud-Hutinet: Auguste et Louis Lumière - Les 1000 premiers films. Paris 1990. S. 56f.

Der siebte Teil und damit der gesamte Beitrag Müllers über den Cinématographe Lumière endet mit zwei ungewöhnlichen, weil "undokumentarischen" Lumière-Filmen [15]: Ein Skelett lässt ordentlich seine Knochen durcheinander purzeln. Das erinnert stark an die Stopptrick-Filme des Georges Méliès, von einer simplifizierenden Filmgeschichtsschreibung als fiktionaler Gegenpol zu den realistischen Lumières aufgebaut. Eine solche Vereinfachung vermeidet Müller, denn mit ihren beiden Schlussbildern weist sie darauf hin: Die Lumières haben auch anderes gemacht.

[16]

Die Tänzerin in der Aufnahme mit der Katalog-Nr. 765, betitelt Danse Serpentine, war woh die Amerikanerin Loie Fuller, mindestens eine ihrer zahlreichen Nachahmerinnen. Fuller, eine Pionierfigur des Modernen Tanzes UND der Beleuchtungstechnik im Theater, trat jahrelang in den Folies Bergères in Paris auf, wo sie auch Künstler und Wissenschaftler mit ihren technischen Solo-Choreographien begeisterte. Loie Fuller, Plakat für die Folie Bergère/Paris Viel zu lesen UND zu sehen gibt es über Fuller im Internet, z.B. unter Loie_Fuller (Wikipedia, 27.5.2008), wo es u.a. heißt: »Fuller held many patents related to stage lighting including chemical compounds for creating color gel and the use of chemical salts for luminescent lighting and garments (stage costumes US Patent 518347). Fuller was also a member of the French Astronomical Society.« Ingenieure des Lichts unter sich… Loie Fuller, Kostüm-Patent

Im zweiten Film, einem handkolorierten Schleiertanz, scheint kurz noch einmal die wissenschaftliche Bewegungsstudie auf [16].

In erster Linie aber greifen bunter Tanz und groteskes Gerippe dem weiteren Werdegang des Kinos vor: Es wird heftig daran mitarbeiten, eine Unterhaltungsindustrie entstehen zu lassen. Gemischte Zukunftsaussichten, Danse macabre in Farbe.

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)

Martina Müller, `Cinématographe Lumière - Kino vor 100 Jahren`:film: (D 1995)