Filmvermittlung und frühes Kino

Die Brüder Lumière, der Kinematograph und die Einstellung
Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans« (F 1998)

Von Stefanie Schlüter

1. Filmvermittlung in Einstellungen

Alain Bergalas analytische Arbeiten Le cinéma, une histoire de plans (frei übersetzt: Das Kino, eine Frage der Einstellung), 1998 als Produktion von AGAT Film & Cie und Les enfants de cinéma [1] entstanden, verfolgen den Ansatz, »sich dem Kino von der Einstellung her anzunähern«. Denn für Bergala ist die Einstellung »in ihrer Zeitlichkeit, ihrem Werden, ihrem Rhythmus die kleinste lebendige Zelle, ein relativ autonomer Bestandteil des großen Körpers Kino«. [2] Auch in der Pädagogik von Bergala hat die Einstellung einen zentralen Stellenwert, weil sich mit ihr die Grundlagen der Filmanalyse wie des »filmischen Schaffensprozesses« [3], dem Kernstück seines Vermittlungsansatzes, in verdichteter Weise weitergeben lassen: »Schließlich ist die Einstellung als die konkreteste Einheit des Films auch der ideale Ort einer Begegnung zwischen dem analytischen Ansatz – auf kleinster Fläche sind hier sehr viele Parameter und Elemente der Filmsprache zu beobachten – und der Einführung in den Schaffensprozess, denn an ihr kann man sich über all die Entscheidungen klar werden, die erforderlich sind, um ›eine Einstellung zu machen‹.« Bezug nehmend auf das Filmschaffen führt Bergala aus: »Hinsichtlich des kinematographischen Akts sind in der Einstellung auf großartig komplexe Art die meisten Entscheidungen mit im Spiel, die für den realen filmischen Schaffensprozess bestimmend sind: Wo soll die Einstellung anfangen, wo enden, wo soll die Kamera stehen, wie sind die Bewegungen zu organisieren und zu kadrieren, die darin stattfinden sollen? Welche Grenzen setzt man sich im Umgang mit den Dingen und der Welt? Was darf man einfangen oder in Szene setzen? Wie den Schauspieler einfügen? Wie ihr einen eigenen Rhythmus geben?« [4]

Da jede Einstellung auch Auskunft über den »historischen Moment ihrer Entstehung« [5] gibt, lässt sich bei ihrer Analyse etwas über den Stand der Filmgeschichte, ihrer technischen und ästhetischen Möglichkeiten zu einer bestimmten Zeit, ablesen. Mit etwa dreißig sorgfältig ausgewählten Einstellungen, so Bergala, ließe sich die 100-jährige Geschichte des Kinos erzählen. [6] Der Umstand, dass das Kino mit Filmen begonnen hat, die aus einer einzelnen, etwa 50 Sekunden dauernden Einstellung bestehen, bildet für Alain Bergala den Ausgangspunkt seiner Arbeiten. Bergala eröffnet seine nur wenige Jahre nach dem 100. Geburtstag des Kinos [7] auf VHS erschienene Serie von zwei mal sechs Einstellungsanalysen mit gleich drei Filmen der Brüder Lumière: Attelage d’un camion (F 1896), La petite fille et son chat (F 1900) und Le faux cul-de-jatte (F 1896). [8] Indem er mit einigen der ersten Einstellungen der Filmgeschichte in die Analysen einsteigt, bindet Bergala seine Methode an die Gründungsgeschichte des Kinos zurück und verweist zusätzlich auf die historische Bedeutung der Einstellung für das Kino. Vielleicht legitimiert die Entstehungsgeschichte des Kinos die Methode nicht nur, sondern gibt sie gewissermaßen schon vor.

2. Drei Lumière-Filme, drei Einstellungstypen

Mit seiner Auswahl verzichtet Bergala auf die wohl bekanntesten Lumière-Filme, etwa L’arrivée d’un train à La Ciotat (1895) oder Sortie d'usine (1895), auf die sowohl in Filmvermittelnden Filmen wie in Avantgardefilmen besonders häufig rekurriert wird. [9] Gleichwohl bildet Bergalas Auswahl im verkleinerten Maßstab einen repräsentativen Querschnitt durch den Kosmos der Brüder Lumière mit ihren typischen Sujets und ihren kinematographischen Gestaltungsmöglichkeiten ab. Attelage d’un camion und Le faux cul-de-jatte zeigen eines der beliebtesten Sujets aus Lumière-Filmen: Straßenaufnahmen. Le faux cul-de-jatte bringt noch einen weiteren Aspekt vieler Lumière-Produktionen ins Spiel: die Inszenierung. La petite fille et son chat gehört wiederum den Lumière-typischen Aufnahmen des privaten Lebens an.

Als Zeitdokumente können die drei Filme zudem Zeugnis von dem Land ablegen, in dem sie entstanden sind: Frankreich um 1900. [10] Der Kommentar von Attelage d’un camion greift diese Perspektive auf: »Ist dir klar, was man alles in einer einzigen Sekunde über das Frankreich vor einem Jahrhundert herausfinden kann? Das ist wie eine Stichprobe. Und durch diesen Zufall hat man sogar einen perfekten Querschnitt, der alle Teile der Bevölkerung enthält und zugleich alle Transportmittel. Man hält das fast für eine Inszenierung, so vollständig ist das Bild.« [11] Mit Ausnahme der Transportmittel gilt dies auch für die Straßenszene in Le faux cul-de-jatte; auch in dieser inszenierten Einstellung sind Menschen aus verschiedenen Bereichen und Schichten der Gesellschaft versammelt: Bürger, Bettler, Polizei. La petite fille et son chat vermittelt hingegen einen plastischen Eindruck davon, wie ein Kind aus bürgerlichen Verhältnissen, Madeleine Koehler, die Nichte der Lumières, in Frankreich um 1900 ausgesehen und gelebt hat.

An Bergalas Filmauswahl lässt sich auch nachvollziehen, was das Kino um 1900 trotz oder, man möchte sagen, gerade wegen seiner technischen Beschränkungen zu leisten im Stande war. Zu den grundlegenden Strukturprinzipien der Lumière-Filme gehören die starre Kamera mit ihrer fixen Position im Raum, die Bewegungen im Bild und nicht zuletzt die Länge der Filmrolle, die bestimmt, wann ein Film zu Ende ist. Betrachtet man die drei Lumière-Filme unter diesen Gesichtspunkten, kristallisieren sich verschiedene Einstellungstypen heraus, die sich mit dem Kinematographen erzeugen ließen.

In Attelage d’un camion wird die dokumentarische Aufnahme einer alltäglichen Straßenszene, ein Gespann von zehn Pferden, das einen Wagen zieht, zu einem so kunstvoll komponierten visuellen Ereignis dass man geneigt ist, den Film für eine Inszenierung zu halten. Seinen besonderen Rhythmus verdankt der Film der Bewegungen im Bild: Von einem Gespann mit zehn Pferden tritt ein Pferd nach dem anderen unten links ins Bild; die Einstellung endet erst, wenn das gesamte Gespann mit Wagen das Bild einmal in seiner Diagonale durchquert hat und oben rechts wieder aus dem Bildkader verschwunden ist. Neben dem Pferdegespann, das die Hauptattraktion der Einstellung darstellt, geraten noch allerlei andere, weniger geordnet erscheinende Bewegungen in den Blick: fahrende Kutschen, vorübergehende Passanten und Menschen, die Lasten über die Straße tragen. Durch die Kameraposition in Bezug zur Bewegungsrichtung des Gespanns ergibt sich eine streng geometrische Bildkomposition. Die Dreiecksstruktur, die das Bild durch das Durchqueren des Pferdegespanns erhält, lässt auch an den Bildaufbau von L’arrivée d’un train à La Ciotat denken. [12] Die Umkehrung der Bewegungsrichtung des Pferdespanns in Attelage d’un camion gegenüber dem einfahrenden Zug in L’arrivée d’un train à La Ciotat erzeugt beim Zuschauer jedoch eine andere Form von Spannung und Aufmerksamkeit. Spiegelte sich mit dem einfahrenden Zug, der im Kino auf die Zuschauer zuraste, bereits eine moderne Wahrnehmungserfahrung wider, für die das Moment der Beschleunigung und des »Chocks« charakteristisch ist, so ist das gemächlich vorbeiziehende Pferdegespann in Attelage d’un camion eher noch der alten Wahrnehmungserfahrung verbunden. L’arrivée d’un train setzt, so ließe sich argumentieren, auf ein unmittelbares Erleben von Beschleunigung, und die aufgebaute Spannung entlädt sich ebenso unmittelbar. Dagegen wird die Spannung in Attelage d’un camion eher langsam gesteigert, der Zuschauer wird gewissermaßen auf die Folter gespannt: Was wird als letztes ins Bild kommen? Reicht die Filmrolle überhaupt aus, um dieses Geheimnis zu lüften?

Gegen den Dokumentarfilm Attelage d’un camion gibt sich die Straßenszene in Le faux cul-de-jatte deutlich als Inszenierung zu erkennen. Die Bewegungen im Bild richten sich an einer einzelnen Figur aus, einem beinlosen Bettler, der zu Beginn des Films im Zentrum des Bilds seinen Platz einnimmt. Die Bewegungen der anderen Figuren lassen sich im Verhältnis dazu als kurze Auftritte und Abgänge beschreiben: Sie treten aus verschiedenen Richtungen ins Bild, werfen eine Münze in den Hut des Bettlers, durchqueren und verlassen den Bildraum. Die Kamera ist so positioniert, dass sie im Bildvordergrund den Bettler und rechts von ihm eine leicht schräg in die Tiefe des Bildes verlaufende Straße im Visier hat. Einzig diese Straße, die bis in die Tiefe des Bilds scharf bleibt, bietet Raum für längere Figurenauftritte. Diese perspektivisch aufgenommene Straßenansicht sorgt für einen geometrischen Grundriss des Bildes und schafft ähnlich wie in L’arrivée d’un train und Attelage d’un camion Raum für Spannungsmomente. Der dramaturgische Höhepunkt der Szene ist erreicht, wenn der Bettler von einem Polizisten angesprochen wird, den der Zuschauer von hinten langsam hat auf den Bettler zukommen sehen. Die Spannung entlädt sich in einem Gag, wenn der angeblich Beinlose aufspringt und über die Straße flieht, über die der Polizist gekommen war. Der Film endet in einer Verfolgungsjagd: der falsche Krüppel dicht gefolgt vom Gendarm oberhalb der Straße. Innerhalb der inszenierten Bewegungschoreographie der auf- und abtretenden Figuren ereignet sich etwas, das sich schwer planen lässt: Rechts von der Seite läuft ein Hund ins Bild. Der Auftritt des Hundes verleiht der Szene etwas Lebendiges, Spontanes und fügt sich glücklich in die Inszenierung, denn – ob zufällig oder einstudiert – der Hund verhält sich wie ein Schauspieler: An der Ecke zum Fluchtweg wartet er wie ein Komplize auf den Kumpanen und rennt schließlich mit ihm davon.

Der Film La petite fille et son chat konzentriert sich auf zwei Figuren, von denen die eine, das Mädchen, sich nur eingeschränkt bewegen kann, weil sie in einem Stuhl sitzt, der an einen Hochstuhl für Kinder denken lässt, während die andere, die Katze, sich lebhaft im Bild bewegt und durch ihre Bewegungen die Szene dominiert. Anders als in den anderen Filmen, in denen mehrere Figuren größere Wege im Bild zurücklegen, findet in La petite fille et son chat das Ereignis im Zentrum des Bildes im Bildvordergrund statt; Mädchen und Katze sind in einer Nahaufnahme gefilmt und füllen fast den gesamten Bildraum aus. Während das Mädchen, bekleidet mit einem weißen Kleid und einem Sommerhut, eine große, dunkle Katze füttert, tänzelt das Tier auf dem am Stuhl befestigten Tischchen vor der Nase des Kindes umher. Dabei streift die Katze mit ihrem buschigen Schwanz einmal den Hut des Mädchens. Die Katze ist dem Mädchen zugewandt, aus dessen Hand sie gierig frisst, bevor sie sich in Richtung Kamera wendet und vom Tischchen herunterspringt. Wie so oft im frühen Kino, findet auch in La petite fille et son chat ein reger Austausch zwischen dem On und dem Off des Bildraums statt. Für einen kurzen Augenblick bleibt die Katze im Off verschwunden, bis sie wieder auf das Tischchen zum Mädchen springt. Die Spannung steigert sich, weil die Katze immer insistierender nach der kleinen Kinderhand krallt. Dabei verdeckt der Katzenkörper das Mädchen beinahe ganz, nur einmal sieht man hinter der Katze das schmerzverzerrte Kindergesicht. Der Film endet, wenn die Katze sich so gierig nach der Kinderhand reckt, dass ein Teil des Katzenkopfes und eine Pfote aus dem Bild herausragen. Diese klar umrissene Szene bezieht ihre Wirkung ganz aus der Kraft der spontanen Bewegungen des Tiers, das zweifelsohne die Hauptattraktion der Einstellung bildet, und ihre »Schauspielpartnerin«, das Mädchen, buchstäblich an die Wand spielt. Man könnte sogar denken, indem die Katze das Mädchen fast zum Verschwinden bringt, verschlinge sie das Kind wie das Futter in dessen Hand.

In La petite fille et son chat wird, wie bei den beiden anderen Lumière-Filmen, die Spannung zwischen Planung und Zufall, Dokument und Inszenierung sichtbar im Bild eingefangen. Die künstliche Trennung zwischen dokumentarischem und fiktionalem Film lässt sich bereits aus der Perspektive des Frühen Kinos in Frage stellen. Vielleicht spielt Godard in seiner Rede anlässlich der Louis Lumière-Retrospektive 1966 darauf an, wenn er sagt: »Méliès interessierte sich für das Gewöhnliche im Ungewöhnlichen und Lumière für das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen.« [13]

Die drei Filmbeispiele, die Bergala für seine Einstellungsanalysen ausgewählt hat, können als Platzhalter für eine Vielzahl an Möglichkeiten stehen, die dem technisch eingeschränkten Kinematographen zur Verfügung gestanden haben, um eine Bewegung, eine Szene, ein Ereignis auf Filmmaterial aufzuzeichnen. Sie lassen drei verschiedene Einstellungstypen erkennbar werden, die mit dem zur Verfügung stehenden Bildraum auf höchst unterschiedliche Weise umgehen. Im ersten Fall findet das Ereignis nicht im Zentrum des Bildes statt: Vielmehr ist das Zentrum zugunsten einer sukzessiven Bewegung aufgelöst, die sich diagonal im Bild verschiebt. Im zweiten Fall wird eine Figur im Zentrum des Bildes durch Figuren im Bildvordergrund wie durch den perspektivisch dargestellten Bildraum im Hintergrund flankiert. Die dritte Einstellung hingegen konzentriert sich ganz auf ein Ereignis im Zentrum des Bildes, das in Nahaufnahme gefilmt ist.

3. Einstellungsanalysen – Verlangsamen und Entdecken

Alain Bergalas Einstellungsanalysen stellen, wie er selbst formuliert, »eine offene, vielseitige, lebendige Lektüre von Fragmenten« [14] dar. Im Fall der Lumière-Filme handelt es sich jedoch nicht um Fragmente, sondern um räumlich, zeitlich und narrativ in sich geschlossene Filme. Was an den ersten Einstellungen der Kinogeschichte erkennbar wird, sind »die raffinierte Künstlichkeit, die ausgeklügelte mise en scène, die genau ausgedachte Kameraposition und die geradezu unheimliche Präzision, mit der die technischen und materiellen Beschränkungen (vornehmlich die vorgegebene Filmlänge von 17 Metern und die fest montierte Kamera) als Stilwillen und formale Organisationsprinzipien vom Operateur-Regisseur produktiv gemacht wurden.« [15] Andere Regisseure, etwa Yasujiro Ozu, erlegten sich selbst zu einem späteren Zeitpunkt in der Filmgeschichte vergleichbare Beschränkungen auf, auf die sie eine eigene Filmästhetik gründeten: »So wie sich Ozus Themen im wesentlichen immer glichen, so hatte sich auch seine Methode reduziert und konzentriert: eine nahezu unumstößliche Kameraposition so wie ein simples filmisches Satzzeichen – ein einfacher Schnitt. Und so wie er Auf- und Abblenden sowie Überblendungen verschmähte, so durfte in seinen späteren Filmen die Kamera weder geschwenkt noch im Raum bewegt werden. Aus all diesen Beschränkungen würde ein Film entstehen, der frei wäre und voller Leben.« [16]

In seinen Einstellungslektüren geht Bergala immer nach dem gleichen Prinzip vor, das sich als »Entschleunigung« der Wahrnehmung charakterisieren lässt. Mit Video simuliert er eine Situation, wie sie für die Arbeit am analogen Schneidetisch typisch gewesen ist: Er verlangsamt die jeweilige Einstellung, lässt sie vor- und zurücklaufen, hält sie an, lässt sie wieder zurücklaufen etc. Auf diese Weise lassen sich noch die entlegensten Winkel des Bildes untersuchen und überraschende Details im Verlauf einer Einstellung finden. Technikgeschichtlich war der Schneidetisch, bevor sich VHS- oder DVD-Abspielgeräte auf dem Markt durchsetzten, der wichtigste »Ort der Filmuntersuchung«. [17] Eine Einstellung, eine Einstellungsfolge oder ein ganzer Film konnten lange Zeit nur am Schneidetisch einer so sorgfältigen Analyse unterzogen werden, wie Bergala es hier vorführt. Und auch umgekehrt gilt: Beim Schneiden von Filmen lernt der Cutter das filmische Material so gut kennen wie kaum ein anderer am Film Beteiligter.

Die Eingriffe ins Ausgangsmaterial, die Bergala in Le cinéma, une histoire de plans vornimmt, betreffen einzig die zeitliche Ökonomie der Einstellung: Um eine Einstellung von etwa 50 Sekunden Länge zu analysieren, dehnt Bergala diese auf eine Länge von bis zu zehn Minuten. Dabei gehört es zu seinen Grundsätzen, die Einstellung in ihrer Einheit nicht anzutasten: »Montage interdit!« – Schneiden verboten! Die Methoden der Filmuntersuchung, die Bergala in seinen Einstellungsanalysen anwendet, entsprechen also ihrem Gegenstand, der Einstellung als ungeschnittene Einheit. In der entschleunigten Aufmerksamkeitsökonomie seiner Arbeiten spiegelt sich auch der affektive Blick auf das Kino, um den es Bergala in seiner Pädagogik geht. Da sein Verfahren die »Normal-Wahrnehmung« von Einstellungen aus den Angeln hebt und sich ein mitunter verfremdeter Wahrnehmungseffekt einstellt, wird zu Beginn und am Schluss jeder Analyse die Einstellung einmal ganz gezeigt – ohne Eingriffe und Kommentar. Die Rahmung der Analyse durch ihren Gegenstand, die Einstellung, schafft eine explizite Vermittlungssituation: An erster Stelle steht das Selbst-Sehen, an zweiter die angeleitete Lektüre und an dritter Stelle das erneute Sehen.

Die eigentliche Analyse erfolgt durch einen auf zwei Sprecher verteilten Off-Kommentar, der unmittelbar auf das reagiert, was durch die operativen Eingriffe im Bild sichtbar geworden ist. Manchmal werden die Operationen des Filmvermittelnden Films im Kommentar angesprochen: »Warte, ich spule ein kleines Stück zurück.« Das Besondere am Kommentar aller Einstellungsanalysen dieser Serie ist, dass es grundsätzlich zwei Sprecher gibt, einen Mann und eine Frau, die sich über die Einstellung unterhalten. Die Form des Gesprächs unterstützt den Eindruck einer »lebendigen Lektüre« (Bergala), denn im gemeinsamen Schauen und Sprechen, im unmittelbaren Zeigen (»Siehst du...«; »Schau mal...«) entsteht eine Beschreibung der Einstellung im Modus des Entdeckens. Diese Gesprächssituation ist jedoch nicht so spontan, wie sie wirkt. Vielmehr ist der Dialog präzise inszeniert, stammen die Dialogzeilen doch von einem einzigen Autor: Bergala. Und zu dieser Form der Inszenierung gehört, dass der Kommentar und die Eingriffe im Bild genauestens aufeinander abgestimmt sind. Abgerundet wird die Inszenierung noch, indem alle Dialoge von zwei Schauspielern gesprochen werden: Attelage d’un camion wird von Fanny Ardant und Michel Piccoli eingesprochen, La petite fille et son chat und Le faux cul-de-jatte von Ariane Ascaride et Jean-Pierre Darroussin.

Was die Einstellungsanalysen Bergalas direkt mit seinem filmpädagogischen Ansatz (»Kino als Kunst«) verbindet, ist das stete Rekurrieren auf andere Kunstformen: »Man spürt auch das Gewicht und Volumen der Pferde wie in einem Bild von Paolo Uccello. Es ist, als fänden die Anfänge des Kinos zu den Anfängen der Zentralperspektive in der Malerei zurück. Man hat das gleiche Gefühl eines ›ersten Mals‹, einer völlig neuen Form der Repräsentation.«, heißt es beispielsweise im Dialog zu Attelage d’un camion. Neben diesen Verweisen auf die anderen Künste hebt Bergala immer wieder die Besonderheiten des Kinos als eigenständige Kunst hervor: »Diese gefilmte Einstellung liegt 100 Jahre zurück. Man weiß, dass alle, die diesen kleinen Flecken Erde bewohnten, nun tot sind. Die Alten, die Jungen, die Pferde. Und hier sehen wir sie diese Kreuzung in der Gegenwart überqueren, in Richtung einer offenen Zukunft, die sie noch nicht kennen. Vor dem Kino hat keine andere Kunstform den Menschen dieses Gefühl vermitteln können.«

Die Art und Weise, wie Bergala das Filmspezifische in seiner historischen Dimension herausstellt, erinnert an Roland Barthes’ Überlegungen zur Photographie, wenn er von dem »NEUEN« spricht, »das mit ihr aufgekommen ist« [18] und das sie von den anderen, früheren Künsten unterscheidet. Um den Medienwandel zu beschreiben, der um 1895 eingesetzt hat, drängt sich ein Vergleich geradezu auf: Wie wäre es, wenn man die Photographie Die Endstation der Pferdebahn von Alfred Stieglitz (New York 1893), die in Roland Barthes’ Die helle Kammer abgebildet ist [19], mit dem Film Attelage d’un camion (F 1893) der Brüder Lumière vergliche?

[1]

Les enfants de cinéma führen das frankreichweite Schulkinoprogramm École et cinéma durch.

[2]Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Hrsg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Marburg: Schüren 2006. (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn 2006). S. 88.
[3]Zum »Schaffensprozess« siehe die Kapitel VII und VIII in »Kino als Kunst«. Als filmpraktische Übung schlägt Bergala vor, mit Schülern nach dem Vorbild der Brüder Lumière eine etwa einminütige Einstellung mit fixer Kamera zu drehen. Vgl. Alain Bergala: Kino als Kunst. S. 137f.
[4]Alain Bergala: Kino als Kunst. S. 88.
[5]Alain Bergala: Kino als Kunst. S. 88.
[6]

Bergalas Beschreibung seiner Einstellungsanalysen Le cinéma, une histoire de plans findet sich in französischer Sprache auf der Webpage von Les enfants de cinéma .

[7]

1995 wurde der 100. Geburtstag des Kinos gefeiert, der auf die öffentliche Filmprojektion von Lumière-Filmen am 28.12.1895 im Salon Indien im Grand Café, Boulevard des Capucines 14 in Paris, zurückgeht. Der erste Film im Programm, La sortie d'usine (1895) gilt seither »offiziell« als der erste projizierte Film der Kinogeschichte.

Vgl. auch Thomas Elsaesser: »Feiern wir als ›Geburtsstunde‹ des Films die Vorführung bewegter Bilder für zahlende Zuschauer, dann gehört Edisons Kinetoskop der Ruhm; geht es um bewegte projizierte Bilder vor einem kollektiven Publikum, dann sind es die Gebrüder Lumière. Geht es schließlich um projizierte bewegte Bilder vor zahlendem Publikum, gebührt den Brüdern Skladanowsky die Erfinderehre.« Thomas Elsaesser: Eine Erfindung ohne Zukunft. Thomas A. Edison und die Gebrüder Lumière. In: Ders.: Filmgeschichte und frühes Kino: Archäologie eines Medienwandels. München: edition text + kritik 2002. S. 47-68: 48.

[8]

Die Einstellungsanalysen der drei Lumière-Filme befinden sich auf der ersten der beiden VHS-Kassetten von Le cinéma, une histoire de plans. Erhältlich bei Les enfants de cinéma (18. Mai 2008)

Alle drei Lumière-Filme werden auch in Eric Rohmers Film Aller au cinéma – Louis Lumière gezeigt, den er 1968 für das französische Schulfernsehen gedreht hat.

[9]

Zu nennen wären etwa Harun Farockis Film Arbeiter verlassen die Fabrik (1995), der anlässlich von »100 Jahre Kino« entstanden ist, und Farockis Installation Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten (2006) für die Ausstellung Kino wie noch nie. Siehe auch: Antje Ehmann und Harun Farocki (Hrsg.): Kino wie noch nie. Wien und Köln: Generali Foundation / Buchhandlung Walther König 2006.

Stellvertretend für eine Vielzahl an Avantgardefilmen, die an genannte Filme der Brüder Lumière anschließen, seien hier nur die Titel L’arrivée (1997/98) und Motion Picture (1984) von Peter Tscherkassky erwähnt. Vgl.: Christa Blümlinger: Lumière, der Zug und die Avantgarde. Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 09.03.2002 im Rahmen einer von Sixpack veranstalteten Tagung »Das Frühe Kino und die Avantgarde« im Wiener Stadtkino abgehalten wurde.

Mehr zu Harun Farockis Film hier: Arbeiter verlassen die Fabrik

[10]Während die Lumières ihre Kameramänner, die so genannten »Operateure«, in die ganze Welt ausschwärmen ließen, um mit dem Kinematographen dem Leben in anderen Ländern auf die Spur zu kommen, beschränkt sich Bergalas Auswahl von Lumière-Filmen in Le cinéma, une histoire de plans auf in Frankreich gedrehte Einstellungen.
[11]

Kommentartext aus Attelage d’un camion

[12]»Henri Langlois etwa hob [Bezug nehmend auf L’arrivée d’un train à La Ciotat] die leicht schräge Kadrage mit perspektivischer Ausrichtung hervor, die diagonale Bewegung, die Dreiecksstruktur (kein Hauptgeschehen im Zentrum der Einstellung), gegensätzlich verlaufende Handlungen, die sich bildlich ergänzen oder sich nicht ›aufheben‹.« Christa Blümlinger: Lumière, der Zug und die Avantgarde. S. 37. Zitiert nach: Institut Lumière (Hg.): Lumière, le cinéma. Lyon 1992. Vgl. auch Langlois' Aussagen zum Bildaufbau im Film Aller au cinéma von Eric Rohmer.
[13]Jean-Luc Godard: Dank Henri Langlois. In: Godard. Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950-1970). Ausgewählt und übersetzt aus dem Französischen von Frieda Grafe. München: Hanser 1971. S. 170-174: 171f. (Rede gehalten in der Cinémathèque Française anlässlich der Louis Lumière-Retrospektive Januar 1966. Zuerst erschienen in: Le Nouvel Observateur, Nr. 61, 12. Januar 1966.)
[14]Alain Bergala: Kino als Kunst. S. 24.
[15]Thomas Elsaesser: Eine Erfindung ohne Zukunft. S. 57.
[16]Donald Ritchie: Millimeterarbeit. Ins Deutsche von Olaf Möller. In: meteor. No. 11 / 1997. S. 78-80: 79. (Zuerst erschienen unter dem Titel: Private People, Public People. Kodansha, Tokyo 1996.)
[17]»Der Schneideraum ist der Ort der Filmuntersuchung; in ihm wird eine Einstellung genauestens gewogen und bewertet.« Antje Ehmann und Harum Farocki: Kino wie noch nie. S. 12.
[18]Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Aus dem Französischen von Dietrich Leube. 1. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. S. 12.
[19]Roland Barthes: Die helle Kammer. S. 27. Roland Barthes äußert sich zu einem Photo von Alfred Stieglitz