Filmvermittlung und frühes Kino
»Attelage d’un camion«, ein Lumière-Film (F 1896)
Dialog aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«
Transkript aus aus: Attelage d’un camion, un film Lumière (F 1896), gesprochen von Michel Piccoli und Fanny Ardant
Michel Piccoli Diese gefilmte Einstellung liegt 100 Jahre zurück. Man weiß, dass alle, die diesen kleinen Flecken Erde bewohnten, nun tot sind. Die Alten, die Jungen, die Pferde. Und hier sehen wir sie diese Kreuzung in der Gegenwart überqueren, in eine offene Zukunft hinein, die sie noch nicht kennen. Vor dem Kino hat keine andere Kunstform den Menschen dieses Gefühl vermitteln können.
Fanny Ardant Du bist heute aber düster gestimmt.
Piccoli Aber überhaupt nicht, ich finde das nicht traurig, im Gegenteil. Ich finde es sogar großartig, dass das Kino uns dies hat geben können: das sehr lebhafte Gefühl einer Gegenwart, die keinen einzigen lebenden Zeugen mehr hat. Es existiert niemand mehr, der diese Zeit erlebt hat, aber es existieren in dieser Einstellung mit ihrer Frische des Tages all diese Leute, die der Zufall in einer Minute auf diesem Platz einander über den Weg laufen ließ. Vielleicht ist das die Essenz des Kinos.
Ardant Ist Dir klar, was man alles in einer einzigen Sekunde über das Frankreich vor einem Jahrhundert herausfinden kann? Das ist wie eine Stichprobe. Und durch diesen Zufall hat man sogar einen perfekten Querschnitt, der alle Teile der Bevölkerung enthält und zugleich alle Transportmittel. Man glaubt fast an eine Inszenierung, so vollständig ist das Bild.
Piccoli Siehst Du, das Geniale an den Lumière-Kameraleuten lag in ihrer Auswahl eines Ortes und eines Zeitpunkts. Hier sieht man, wie sie auf nahezu alles mit einer unglaublichen Präzision geachtet haben. Die Position der Kamera, die Kadrierung, der genaue Moment, an dem sie die größte Chance haben, so viel Verkehr wie möglich zu erwischen. Sie begaben sich immer an eine befahrene Kreuzung wie hier, und das ergab einen Rhythmus, der zugleich voller Variation und lebhaft war, mit wirklichen visuellen Überraschungen, was jeweils ins Bild eintreten würde.
Ardant Aber glaubst Du nicht, dass dies auch mit der sehr starken Begrenzung des frühen Kinos zu tun hat? Sie hatten nur 50 Sekunden Film und eine unbewegte Kamera zur Verfügung, deshalb mussten sie sich so gut vorbereiten, wenn Sie ihre Einstellung nicht verpassen wollten.
Piccoli Absolut. Aber in diesem Fall ist es offenbar nicht nur diese Straßenkreuzung, die den Kameramann interessiert. Es gibt schon ein im Vorhinein bedachtes Thema. Was man hier sieht, ist der Transport von enorm großen Steinblöcken. Es liegt deshalb wirklich Suspense in dem, was zu sehen ist: Was wird nach diesem Pferdezug in den Bildkader hineinkommen?
Ardant Der Kameramann hat einen idealen Winkel ausgewählt. Die Pferde kommen eins nach dem anderen in das Bild hinein und durchqueren es dann durch die ganze Bilddiagonale hindurch. Als er anfing, die Handkurbel zu drehen, als das erste Pferd im Bild ist, muss er berechnet haben, dass nach 50 Sekunden alle Pferde durch das Bild sein sollten.
Piccoli Hinzu kommt noch die Höhe der Kamera. Es ist die perfekte Höhe, um zu sehen, wie ein Pferd läuft. Wo sind die Muskeln, was machen die Hinterläufe? Man sieht das Auftreten der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster.
Ardant Man spürt auch das Gewicht und das Volumen der Pferde wie in einem Bild von Paolo Uccello. Es ist, als fänden die Anfänge des Kinos zu den Anfängen der Zentralperspektive in der Malerei zurück. Man hat das gleiche Gefühl eines »ersten Mals«, einer völlig neuen Form der Repräsentation.
Piccoli Mir gefallen auch die anderen Pferde weiter links, die sich ausruhen und dem Vorbeilaufen der anderen zuschauen, die gerade arbeiten.
Ardant Hast du gesehen: Zu einem bestimmten Moment sieht man praktisch nur Pferde im Bild. Da bekommt man wirklich einen Eindruck davon, wie die Großstädte vor dem Automobil gewesen sind.
Piccoli Was an der Wahl des Standpunkts besonders stark ist, ist, dass es gleichzeitig den Raum des Platzes gibt, der von den Pferden durchquert wird, und im Hintergrund die plane Mauer, vor der die Menschenschar wie bei einer Projektion auf eine Wand sind. Das ist wie ein verdoppeltes Bild in einem ebenfalls verdoppelten Raum.
Ardant Willst Du, dass wir ganz zum Beginn der Einstellung zurückkehren, um uns im Detail anzusehen, was da alles passiert?
Piccoli Ja, los, das machen wir.
Ardant Ah, da ist ein Kutscher im Hemd, der einen Blick in Richtung Kamera wirft.
Piccoli Die Jahre vor 1900 waren die einzigen Jahre, in denen die Leute eine Kamera als ein völlig unbekanntes Objekt anschauen konnten, ohne wirklich zu wissen, wozu das dient. Deshalb gibt es kein Gramm Hysterie in diesem Blick. Die Leute sehen eine Maschine, nicht einen Spiegel.
Ardant Und im Hintergrund sieht man eine Magd vorbeigehen, oder vielleicht ist es auch eine Amme mit ihrer weißen Haube.
Piccoli Was frappiert ist, dass niemand ohne Kopfbedeckung auf die Straße geht, sogar die Kinder nicht. Jeder hat eine Kopfbedeckung, die einen genauen Hinweis auf die soziale Herkunft gibt: Der Arbeiter mit seiner Mütze, der Strohhut des Kleinbürgers, der Zylinder; da kommt eine schöne Sammlung zusammen.
Ardant Da hinten vor der Mauer sieht man einen Wagen mit Holzbrettern vorbeirollen, der von nur zwei Pferden gezogen wird. Im Bild verschwindet das Holz exakt im Scheitelpunkt der vorne gezogenen Steinblöcke.
Piccoli Wenn man ganz genau hinsieht, entdeckt man auch jemanden, der etwas auf dem Rücken transportiert. Der Mann dort, der einen Sack auf den Schultern trägt. Er ist beinah vollständig verdeckt, aber man sieht ihn dennoch. Es sind in dieser Einstellung also alle Möglichkeiten versammelt, wie man in einer Stadt etwas transportieren kann.
Ardant Ich mag besonders den Moment, an dem die Signatur ins Bild kommt: Vautier. Das klingt wie aus einem Roman von Balzac: Vautier / Vautrin. Das ist ganz überraschend in dieser Straße nach all dieser Anstrengung: Als würden die 12 Pferde in Wirklichkeit diese Signatur ziehen, eine ganz leichte, immaterielle Spur.
Piccoli Wessen Signatur ist das? Was glaubst Du?
Ardant Vielleicht die des Steinhändlers. Oder aber es ist die desjenigen, dem die Steine geliefert werden sollen. Mit diesem Schnörkel unten ist es auf jeden Fall eine Unterschrift.
Piccoli Das kommt wirklich völlig unerwartet. Es ist, als hätte ein Künstler den Steinblock mit seiner Signatur versehen, bevor er aus ihm eine Skulptur herausmeißelt.
Ardant Und am Ende der Einstellung, als sie sich entfernt, wird das so etwas wie die Signatur eines Malers auf seiner Leinwand. Eine Signatur der Einstellung selbst. Das ist wirklich schön, dass dieser Maler sich »Vautier« nennt.
Piccoli Warte, ich spule ein kleines Stück zurück. Da, da passiert etwas wirklich Tolles: Schau mal. In genau dem Moment, als die Steinblöcke anfangen, den Blick auf den Hintergrund freizugeben, auf dieser sehr rustikalen Kutsche, die wirkt, als käme sie aus dem Mittelalter, in diesem Moment sieht man eine geschlossene Kutsche mit einem Kutscher in einer Livrée vorbeifahren. Man kann sich kaum einen größeren Kontrast zwischen zwei Fahrzeugen vorstellen. Und da, das ist ein wundervoller Zufall, genau in diesem Moment, in dem der Blick auf den Hintergrund geöffnet wird, sieht man diesen eleganten Mann mit seinem Stock und dem Strohhut losgehen, der gewartet hat, bis die Straße frei ist. Er nimmt ganz buchstäblich seinen Platz in dieser Komposition ein, gleichzeitig zufällig und perfekt kadriert.
Ardant Ja, der Zufall war da präziser als jede mögliche Inszenierung. Hast Du gesehen: Einen Augenblick lang steht er genau innerhalb dieses Rechtecks auf der Mauer. Er wird zur zentralen Figur in einem Tryptichon.
Piccoli Anschließend leert sich der Platz. Bis auf den merkwürdigen Typen mit dem Paket unter dem Arm, der die untere Ecke des Bildes durchquert, ohne der Kamera auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Ardant Er wirkt in Eile und sehr mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht ist das eine fiktionale Figur? Ein Exilrusse vielleicht, oder ein Terrorist. Man bekommt Lust, sich alles Mögliche über ihn auszudenken, vielleicht wegen seiner düsteren Art.
Piccoli Ich stelle ihn mir eher als einen armen Kerl vor, der endlich etwas gefunden hat, was er schon lange gesucht hat und worüber sich die anderen lustig gemacht haben. Und jetzt hat er es sehr eilig nach Hause zu kommen.
Ardant Und dann gibt es diesen wunderbaren Moment, in dem sich alles hinten im Hintergrund des Raums abspielt, in der flachen Ebene, mit den drei Personen, von denen jede genau an ihrer Stelle ist, jeder vor seinem Rechteck. Ein vollkommener Szenenwechsel hat stattgefunden. Findest Du nicht, dass die Mauer in diesem Moment wie ein Filmstreifen wirkt?
Piccoli Ja, das stimmt genau. Die Menschen sind in ihren kleinen Bildern, jeder in seinem Kader.
Ardant Und dann gibt es diese letzte Gruppierung von Menschen, eine Art Schlussparade. Diese leichte Pferdekutsche mit dem Kutscher und seinem Zylinder, der die Einstellung sozusagen leerfegt. Wie ein Fensterladen oder das Schließen eines Vorhangs.
(Mit freundlicher Genehmigung von Alain Bergala und Eugène Andréansky von Les enfants de cinéma)