Filmvermittlung und Filmmuseum

Avantgarde und Archäologie

Gespräch mit Alexander Horwath und Michael Loebenstein

Das Gespräch fand am 13.12.2008 im Österreichischen Filmmuseum Wien statt und war der Abschluss einer fünfteiligen Filmreihe, die vom 10. bis zum 13. Dezember 2008 gezeigt wurde. Vor dem Gespräch war ein Programm mit folgenden Avantgarde-Filmen zu sehen: A Movie (Bruce Conner), Pasadena Freeway Stills (Gary Beydler), Shot – Countershot (Peter Tscherkassky), Intolerance (Abridged) (Standish Lawder), Passage à l'Acte (Martin Arnold), Dream Work (Peter Tscherkassky), Mosaik Mécanique (Norbert Pfaffenbichler).

Volker Pantenburg Wenn man auf die fünf Filmprogramme zurückblickt, die in den letzten Tagen hier zu sehen waren, kann man zwei Spielarten des Filmvermittelnden Films unterscheiden. Es gibt einerseits Filme, in denen die Vermittlung durch Texte hergestellt wird. Man sieht Filmmaterial und jemand spricht darüber, kommentiert, analysiert, erläutert. In dem Avantgardefilmprogramm, das wir gerade gesehen haben, und in Gustav Deutschs Filmen ist das anders. Es gibt dort keinen kommentierenden Text; die Vermittlung wird auf anderen Wegen hergestellt: über Bild-Bild-Verhältnisse oder über Bild-Ton-Verhältnisse. Mit Blick auf das Programm gerade, in dem bis auf Gary Beydlers Pasadena Freeway Stills alle Filme mit gefundenem Material arbeiteten, könnte man denken, unser Projekt sei ein Umetikettierungsunternehmen und wir wollten das Feld »Found Footage Film« nun einfach »Filmvermittelnder Film« nennen. Was wären eurer Meinung nach Kriterien, die hinzukommen, wenn man aus dem großen Bereich »Avantgardefilm« und »Found Footage Film« dieses Element des »Filmvermittelnden« herauslösen will? Was ist das »Filmvermittelnde« an diesen Filmen?

Alexander Horwath Was mir durch dieses Programm vermittelt wird, ist nicht nur, dass diese Art von Filmen – sagen wir: »Found Footage Filme« oder Filme, die auf der Basis existierenden Filmmaterials argumentieren – ganz grundsätzlich das Medium Film vermitteln, sondern noch spezifischer: Diese Filme können uns darauf trainieren oder uns begreiflich machen, dass potentiell jeder Film ein Filmvermittelnder Film ist. Also nicht nur, dass sie selber Filmvermittelnde Filme sind, sondern dass sie einem die Augen dafür öffnen, wie jeglicher Film potentiell Filmvermittlung betreibt, indem er immer auch von sich selbst redet und von dem Medium, in dem er entstanden ist. Diese Sensibilisierung ist für mich, von allen Unterschieden abgesehen, die grundsätzliche Leistung von »Found Footage Filmen«; als möglicher Auslöser für eine bestimmte Weise des Sehens und Nachdenkens über Film, die über den »Inhalt« oder die »Form« eines Werks hinausgeht und immer auch die Eigenheiten und »Geheimnisse« des Mediums erfasst. Wenn Du also von »Umetikettierung« sprichst, dann könnte man noch viel radikaler umbenennen und sagen, dass jeder Film ein Filmvermittelnder Film ist. Diese Sichtweise kommt nicht automatisch zustande, wenn man einen Film von Vincente Minnelli, von Griffith oder von Antonioni sieht. Aber sie kann zustande kommen, wenn man »Found Footage Filme« sieht und mit diesem »Wissen« dann Minnelli-, Griffith- und Antonioni-Filme betrachtet. Das war jedenfalls für mich der Grund, warum ich eure Idee, die Avantgarde da mit hineinzunehmen, nicht nur völlig richtig finde, sondern diese Linie sogar betonen würde. Natürlich sind die Methoden hier völlig andere als bei den anderen Arten von Filmvermittelnden Filmen. Aber man könnte – zumindest im Sinne einer engeren modernistischen Perspektive – sagen, dass sie die »allerfilmvermittelndsten« sind, weil sie nicht anderer Ausdrucksformen, zum Beispiel des Textes bedürfen, sondern ganz innerhalb der Logik des Mediums von diesem selben Medium reden.

[1]»Peter Kubelkas Zyklus Was ist Film, der 1996 zur Hundertjahrfeier des Kinos gestaltet wurde, definiert in 62 Programmen anhand herausragender Beispiele den Film als eigenständige Kunstgattung - als Werkzeug, welches neue Denkweisen vermittelt. Das Filmmuseum legt zu jedem Programme ein Informationsblatt mit ausführlichen Texten zu den Filmen auf.« (von der Website des ÖFM)

Michael Loebenstein Es ist natürlich schwierig, mehrere Filme in einem Gedanken zusammenzufassen, aber anschließend an das, was Alexander Horwath gesagt hat, könnte man behaupten, dass der Avantgardefilm und gerade der Found Footage Film an einer Fortschreibung und bruchstückhaften, nicht sehr didaktischen Poetik von Kino und Film insgesamt arbeitet. Was das Schöne sowohl in der Vermittlungsarbeit als auch in der Museumsarbeit ist: Der Avantgardefilm stellt keine Regelpoetik und keine Handlungsanweisungen auf. Er sagt nicht: »Wie baue ich einen Film? Wie konstruiere ich Charaktere? Wie schaffe ich eine Illusion?« Es geht eher um Sichtbarmachung, um eine dekonstruktive Poetik und einen dekonstruktiven Umgang. Aber gleichzeitig kokettieren diese Filme immer wieder mit dem, was das Kino und die Kinoerfahrung besonders macht. Ich glaube, dass – mit Ausnahme des Standish Lawder-Films möglicherweise – keiner der Filme die poetische Kraft des Kinos auf dem Altar der Dekonstruktion oder einer Ideologiekritik opfert. Das macht es ja so spannend. Auch für mich hat biographisch die Begegnung mit Avantgardefilmen hier im Filmmuseum begonnen zu einem Zeitpunkt, an dem ich anfangen konnte, die Filme zu sehen und wahrzunehmen, und nicht nur als Handlungsanweisung und Schlüssel. Ganz konkret war das der Kubelka-Zyklus, der erste Durchgang [1], wo Wavelenghth von Michael Snow lief. Da habe ich gemerkt: Das kann man gleichzeitig genießen und versuchen zu verstehen.

Beydler_Freeway

Alexander Horwath Ein sehr einfacher Film in diesem Programm ist Pasadena Freeway Stills, den ich gerade ob seiner Einfachheit weiterhin wunderbar finde. Ich kenne dieses Phänomen aus unseren Vermittlungsveranstaltungen mit Volksschülern. Wir hatten da einen Baby-Projektor und eine Flipchart, auf die man sonst mit Filzstiften drauf malt. Auf diese »Leinwand« wurde Film projiziert, indem ich einfach einen Filmstreifen durchgezogen habe - um das Prinzip zu zeigen, wie unbewegte Bilder zu einer Bewegung werden, wenn eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht wird. Ich bilde mir natürlich ein, dass ich dieses Basis-Prinzip für die Siebenjährigen recht lustig und verständlich demonstriert habe. Aber nicht annähernd in der großartigen Schlichtheit und Eleganz, mit der in Pasadena Freeway Stills ein kopfloser Körper vor einen festgelegten »Frame«, eine Cadrage, tritt und ein Foto, ein Still nach dem anderen in immer größerer und später wieder reduzierter Geschwindigkeit hinhält. Man mag finden, dass das ziemlich banal sei, aber man kann darin auch die unaufwändigste Weise erkennen, so eine Kernfrage des Mediums in witziger und »duftiger« Form zu illustrieren. Pasadena Freeway Stills steht natürlich auch für sich als Film, aber er hat – deutlicher als manche andere Filme in diesem Programm – diese konkrete Vermittlungsfunktion. Das andere Extrem wäre wahrscheinlich Dream Work; ein Film, in dem die filmvermittelnden Aspekte am wenigsten ins Auge springen. In dem Programm sind viele Abstufungen drin, und der Beydler-Film wäre sicher der Pol, der der Gattung des Filmvermittelnden Films im traditionellen Sinn am ehesten entspricht.

Volker Pantenburg Sicher, weil er auf ein ganz elementares Prinzip des Filmemachens hinweist, indem er das auf eine ganz einfache Spielregel zurückführt und es zugleich in einer spielerischen Form zeigt. Wir haben in der Veranstaltung gestern mit Alain Bergala über Cinéphilie gesprochen. Bei einigen der Filme heute hat man den Eindruck, dass sie auch von einem ikonoklastischen Impuls angetrieben werden. Es gibt also auch einen Impuls, das Kino nicht nur zu feiern oder – negativ gesprochen: zu verklären – sondern auch im Angriff auf bestimmte Formen des Kinos etwas sichtbar zu machen. Wenn ich doch noch einmal auf eine Differenzierung hinaus darf: Ich fragte mich, ob das möglicherweise zwei Pole des Filmvermittelnden sein könnten: Die Cinéphilen einerseits und die Avantgarde mit dem ikonoklastischen Interesse andererseits. Das ist ja ein Interesse, das Kino zu zerlegen und es in seine Einzelteile zu sezieren. Man kann etwas zerlegen, weil man es verstehen möchte, man kann es aber auch zerlegen, weil man es loswerden möchte. Dieser Ikonoklasmus der Avantgarde produziert aber zugleich eine Didaktik – möglicherweise eine Didaktik wider Willen.

Alexander Horwath Ich finde, das funktioniert nur, wenn man ein feststehendes Bild vom Kino hat, in dem der Avantgardefilm nicht dazu gehört. Wenn man also sagt: Es gibt einerseits das Kino, grob gesagt: die Spielfilme, und dann gibt es »anderswo« die, die diese Filme zerlegen. Das ist natürlich eine durchaus verbreitete Sicht, aber das Interessante an den Geschichten der Avantgarde und ihren unterschiedlichen Mutationen ist ja, dass sich immer wieder zweierlei Impulse oder Energien zeigen: Einmal die Momente, in denen sich die Avantgarde exakt nach der »Papierform« verhält – als Ex-negativo-Energie gegenüber den Mainstream-Definitionen vom Kino und dessen dominanten Ausformungen. Es hat aber genauso viele, wenn nicht sogar mehr Momente gegeben, in denen sich der unabhängige, avantgardistische Film ganz selbstverständlich als »Das Kino« verstand, in dem Sinn, dass er den Möglichkeiten des Mediums weitaus mehr entspricht als die Spielfilme, die üblicherweise als »Das Kino« gelten. Das ist also ein schillerndes Hin-und-Her, und es kommt sehr darauf an, ob man die vorherrschenden Definitionen übernimmt oder nicht. Ich gebe dir aber insofern recht, als einigen Arbeiten in diesem Programm der zerlegerische, oder ich würde fast sagen: verlegerische, herzeigende Gestus durchaus eigen ist. Sehr oft, in einigen tollen Beispielen, bleibt es allerdings nicht beim herzeigenden Gestus, sondern es wird eine Weise gefunden, dieses Herzeigende mit etwas ursächlich Eigenem zu verbinden, das nur diesem Werk angehört. Shot – Countershot ist für mich so ein Beispiel. Es gelingt, ähnlich wie bei Pasadena Freeway Stills, in einem Witz das Prinzip »Schuss Gegenschuss« klarzumachen. Natürlich kann man jetzt sagen: Es bedarf einer bestimmten filmischen Vorbildung, um diesen Witz zu verstehen. Das stimmt. Andererseits kann man mit wenigen Worten auch einem sehr jungen Menschen diese Vorbildung geben, indem man erklärt, dass das Schuss-Gegenschuss-Prinzip die wahrscheinlich gebräuchlichste Erzählweise im Spielfilm ist: Ich zeige jemanden, der schaut, danach schneide ich und zeige das, was er angeschaut hat oder die Person, die er oder sie angesehen hat. Also könnte man sagen: Dieses Prinzip wird mit dem Film erklärt. Zugleich wird es aber eben nicht erklärt, sondern konterkariert, weil dieses Fundstück einen jener seltenen Fälle darstellt, wo nach dem »Shot« kein »Countershot« kommt; statt dessen wird der Countershot zum buchstäblichen Revolverschuss, der den trifft, der zuvor geschossen hat. Die Sachlage ist keineswegs zu kompliziert, um – so wie dieser Film – auf poetischem Weg ein Zeigen, Erklären und Vermitteln zu praktizieren. Bei Dream Work muss man wahrscheinlich mehr Worte machen, vom Verhältnis von Traum und Kino und wahrscheinlich von der Psychoanalyse sprechen, und so fort…

Volker Pantenburg Ich bin dankbar für das Stichwort »Zeigen«, weil wir in unserem Projekt immer wieder auf diese sehr basale Geste gestoßen sind. Ganz unabhängig davon, mit welchen Filmvermittelnden Filmen wir es zu tun haben: Die Geste des Zeigens oder, rhetorisch formuliert, die Deixis, ist eine elementare Geste. Das kann man auf die Museumspraxis beziehen. Eben ist der Name Kubelka schon gefallen, und Peter Kubelka ist für mich in diesem Programm insofern anwesend, weil es zu einem Teil aus amerikanischen Avantgardefilmen und zu einem aus österreichischen besteht. Kubelka als Person hat ja buchstäblich sehr stark vermittelt und Sachen aus der amerikanischen Avantgarde hier im Österreichischen Filmmuseum gezeigt. Insofern verbindet sich das sehr mit der Geschichte des Hauses und der Institution. Die Frage ist, wie die sehr umfassende Vermittlungspraxis hier – Bücher, DVDs, Veranstaltungen – den zentralen Aspekt, dass Filme gezeigt werden, rahmt und in bestimmte Zusammenhänge einbindet.

Michael Loebenstein Ich hänge gerade noch dem Gedanken des Ikonoklasmus' nach. Aber ich glaube, da kommt man über einen Umweg wieder zurück zu deiner Frage. Die Frage ist ja auch, ob der Ikonoklasmus nicht auch eine große Zuneigung zum Gegenstand voraussetzt. Eigentlich geht es ja darum, das Kino näherzubringen, aber dies nach Möglichkeit mit einem Bewusstsein zu verbinden für die vermittelnden Aspekte des Kinos selbst. Denn es wäre eine andere Form von Ikonoklasmus, wenn man über das Kino nur spricht und es so erstickt. Wenn man also vermittelt, ohne dabei gleichzeitig auch Kino zu machen. Ich denke, dass das Herzeigen von Filmen ganz zentral sein muss. Denn schon das Regelwerk und die Rahmenbedingungen wie man Filme zeigt – nämlich in einem bestimmten Raum und nicht allein für sich stehend, sondern in Programme eingebunden – ist bereits ein Eingriff. Wenn man fragt, wo die Vermittlung anfängt, dann tut sie das schon bei der kuratorischen Verantwortung, wie man Programme zusammenstellt, wann man sie anbietet (denn damit steuert man ja bereits, wer als Publikum kommen kann und wer nicht) bis hin zu der Frage, für welche Rahmenbedingungen man sorgt. Das betrifft sowohl Eingriffe, wie ihr sie ja auch kennt: Was passiert, wie bei der Veranstaltung am letzten Mittwoch, wenn man WDR-Beiträge, die für ein Massenpublikum gedacht waren, aber ein Massenpublikum von Monaden, Leuten, die vor dem Fernseher sitzen, in einem Kinoraum spielt. Wie verändert das den Gegenstand, aber wie verändert das auch unser Verständnis von Gemeinschaft, die wir in so einem Saal haben. Bis hin zu der Frage von gestern: Wie funktioniert das, wenn man DVD-Extras und pädagogische DVDs in so einem Kontext vorführt.

Alexander Horwath Ich würde gern zur historischen Frage zurückkehren. Es ist vielleicht ein Zufall, aber Intolerance (Abridged) von Standish Lawder ist aus dem Jahr 1970 und war für mich – vielleicht auch für andere – der »zäheste« Film in diesem Programm. Das hat mit vielen Dingen zu tun. Zum Beispiel damit, dass es eindeutig ein Film aus der Vor-Videorecorder und Vor-DVD Zeit ist. Aus einer Zeit, als ein Großteil der Filminteressierten noch keinen derart detaillierten Zugriff auf Filme hatte. Dieser Umstand macht uns den Film heute vielleicht noch zäher, als er ohnehin schon ist. Es schwächt ihn nicht unbedingt, aber es ist für mich ein Teil seines Charakters. 1970 deshalb, weil Peter Kubelka 1970 zusammen mit anderen die Anthology Film Archives gegründet hat und im selben Jahr das erste sogenannte »Unsichtbare Kino« eröffnet wurde. Eines der Prinzipien der dortigen Museumsarbeit, das in Wien schon vorher, seit der Gründung des Filmmuseums im Jahr 1964, Geltung hatte, bestand darin, Filme nicht deformiert zu zeigen – keine korrupten Fassungen, keine synchronisierten Versionen, und im Fall des Stummfilms nur in angemessener Bildgeschwindigkeit. Das war, für Wien gesprochen, der erstmalige Versuch, mit der Filmgeschichte ernsthaft, museumswürdig und bildungs- bzw. vermittlungsorientiert umzugehen, statt in der damals üblichen »verkleinernden«, lieblichen, nostalgischen Weise, in der ein alter Film immer zu etwas »Putzigem« wurde, das dem aktuellen Standard halt nicht entspricht. Die Aussage war: Wir behandeln hier Film so, wie das Kunsthistorische Museum die Kunst behandelt oder behandeln sollte. Das war ein ganz wesentlicher Gedanke, sowohl hier als auch in New York. Bis hin zur sehr umstrittenen Entscheidung, Filme in nicht-untertitelten Originalfassungen zu zeigen, Carl Theodor Dreyer auf Dänisch, Kurosawa auf Japanisch. Ich erzähle das deshalb, weil es mit Standish Lawders Film zu tun hat. Man kann ihn einerseits als Parodie auf Griffith betrachten, eine Parodie auf das epische und in Griffiths Fall – aus späterer Sicht – doch auch zähe Ausbreiten von Narration. Man liest ihn, denke ich, auf den ersten Blick so. Das ist aber sicher nicht die einzige mögliche Lektüre. Allein schon deshalb, weil Griffith in seiner Verschränkung unterschiedlicher Handlungsabläufe natürlich unglaublich innovativ war. So einfach wird es sich Lawder also nicht machen, obwohl ich selbst, muss ich zugeben, oft unter Griffith-Filmen leide. Ich glaube also, dass es eher eine Parodie auf bestimmte Vermittlungsformen ist, nämlich auf die »abridged versions of Classics«. Ich habe zum Beispiel nie »Moby Dick« im Ganzen zu lesen bekommen, sondern immer in einer eingedampften Kurzversion. Das ist ja gerade im anglo-amerikanischen Zusammenhang gang und gäbe: Fassungen für den Schulunterricht; sehr dicke Romane werden auf eine 60 oder 70-Seiten-Version heruntergekocht, damit man wenigstens die Geschichte »hat«. Ich denke, wer Intolerance mit dem Zusatz (Abridged) versieht, der verweist auch auf die Unmöglichkeit und Absurdität dieser Vorgänge und auf diese eher läppischen Vermittlungsformen, die die Institution der Schule oft hervorbringt. Wo das Werk selber nämlich genau nicht zur Erscheinung kommt und zu strahlen beginnen kann, weil sich die Pädagogen nur Sorgen machen, dass es zu lang, zu anstrengend, zu fad wäre. Demgegenüber steht halt – so hoffe ich – in gewisser Weise das, was wir hier tun.

Volker Pantenburg Die Vorstellung ist ja sehr verbreitet, dass »Klassiker« auf kleinere Dimensionen gebracht werden müssen, wenn man sie vermitteln will.

Michael Loebenstein Die Vorstellung des »Handhabbaren«. Das ist ja auch ein Einwand, den man immer wieder von Kuratoren hört: Vermittlung wäre ja eine Vereinfachung und Simplifizierung, die genau den Schock der Begegnung mit dem Kunstwerk und das Fordernde von Kunst herausnimmt und das irgendwie auf ein kleines und handhabbares Format runterbringt. Bis hin zu dem, dass man sich Intolerance unter der Dusche im iPod reinziehen kann, wenn man 15 Minuten zu duschen pflegt. Wir glauben eben, dass es Formen von Vermittlung gibt, die nicht »abridged versions« oder Filmgeschichte sein müssen.

Volker Pantenburg Weil wir gerade über Versionen sprechen und über Kubelka, würde es sich anbieten, jetzt einen Ausschnitt anzuschauen aus Kubelkas Restoring Entuziazm. Es geht da um Fragen von Versionen, Überlieferung und ähnlichem.

Michael Loebenstein Kurz einleitend dazu: Ich weiß nicht, wer von Ihnen diese DVD mit und zu Dziga Vertovs Entuziazm kennt. Die Fragestellung war: Wenn man im Jahr 2005 als Filmmuseum eine DVD von einem kanonischen Film aus der eigenen Sammlung herausbringt, wie kann man das flankieren? Eine Bedeutung von Entuziazm für das Filmmuseum liegt darin, dass Peter Kubelka diesen Film restauriert hat. Er hat das auf eine sehr eigenwillige und nicht unumstrittene Weise getan. Wenn man nun also in einer digitalen Form den Vertov-Film demonstriert, was kann man dem beigeben? Das ist dann zu einer grundlegenden Frage für uns geworden: Wie kann eine Filmmuseums-DVD aussehen? Die Antwort ist ziemlich simpel gewesen: Eine DVD, die einfach die Arbeit darstellt, wie sie in Museen mit Filmen geleistet wird. Immer wieder also dieser Aspekt des Herzeigens; auch des Herzeigens von Handwerk, des Herzeigens von Vorgehensweisen. In diesem Fall hieß das, man muss die Hintergründe dieser Restaurierung zeigen. Und der dritte Schritt war die Frage, wie man das nun genau macht. Da die Politik des Filmmuseums die ist, immer auch das Spezifische am Medium zu demonstrieren, war die Entscheidung dann sehr einfach. Man muss Kubelka erläutern lassen, wie er diese Restaurierung gemacht, und erläutern muss der das mittels der Werkzeuge, die er dafür benutzt hat. Daher ein 65-minütiger Film von Peter Kubelka an einem Filmschneidetisch, der demonstriert, wie er zu dieser Zusammensetzung des Bild-Ton-Verhältnisses gekommen ist. Davon zeigen wir jetzt einfach ein paar Minuten.

[Stills Restoring Entuziazm]

Volker Pantenburg Drei Elemente, bevor Ihr diesen Ausschnitt kommentieren könnt. Das Zeigen ist hier eine sehr prominente Geste. Es gibt aber darüber hinaus die Gegenüberstellung als Technik eines möglichen Vergleichs. Vorher / Nachher. Das ist ein übliches, aber hier besonders interessant vorgeführtes Mittel, Restaurierungspraxis anschaulich machen zu können. Und es gibt drittens, eine Ethik der Transparenz. Es ist also nicht nur klar, dass etwas gezeigt wird, sondern es wird auch gezeigt, wie es gezeigt wird. So ist dieser Schneidetisch beschaffen, so funktioniert die Technik, das ist das, was wir gemacht haben.

Alexander Horwath Das ist auch der Hauptunterschied zu den meisten Filmvermittelnden Filmen, die wir sonst sehen. Die Apparate und Dispositive, die notwendig sind, die Handgriffe, die notwendig sind – wenn man der Idee folgt, dass aus den Handgriffen das Denken kommt – bleiben meist unsichtbar. Das Bild wird also meist als etwas Freischwebendes, per se vorhandenes betrachtet, und innerhalb des Bildes werden dann mise-en-scène, die Handschrift des Autors oder bestimmte Verhältnisse anderer Art erklärt oder gezeigt. Bei der Methode, die Restoring Entuziazm verwendet, wird hingegen auch die Rahmung vorgeführt, innerhalb derer so ein Filmbild oder eine Folge von Filmbildern überhaupt erst existieren kann. In gewisser Weise ist das ein integraler Bestandteil der Positionen, die das Österreichische Filmmuseum von Beginn an eingenommen hat.

Michael Loebenstein Im Fall von Kubelka ist es natürlich eine glückliche Fügung, dass jemand, der Museumsarbeit macht, der also auch eine restauratorische und kuratorische Praxis hat in der Wahl der Werkzeuge und in der Form, wie man eigene Entscheidungen begründet, zugleich ein Filmkünstler ist. Das ist natürlich auch der Hauptkritikpunkt an dieser Restaurierungsarbeit. Wer spricht jetzt hier? Spricht jetzt hier der Filmkünstler oder spricht der Archivar? Das weist natürlich auf die Freiheit hin und auf das gestalterische Moment, das natürlich auch der Position des Restaurators oder des Kurators innewohnt. Dieser Glücksfall ist aber sozusagen auch symptomatisch für dieses Haus hier.

Alexander Horwath Ich muss doch noch etwas dazu sagen, und das ist jetzt auch etwas schwer, weil wir hier ja keine Feierstunde für unseren Co-Gründer abhalten wollen. Aber ich möchte etwas erwähnen, das Kubelka einmal en passant zu mir gesagt hat, bevor ich hier zu arbeiten begonnen habe: Als Künstler, als jemand, der eigentlich Filme machen wollte und dann, 29jährig, gemeinsam mit Peter Konlechner diese Institution gründete, habe es ihn interessiert, ein poetisches und polemisches Museum zu machen. Mich hat dieses Bild nicht mehr losgelassen. Es ist etwas, das ich unglaublich wichtig und schön finde, und das ich immer als Antwort gebe, wenn ich gefragt werde, was für mich ein Museum ist. Man hat viele Erklärungen, woher Museen kommen, was Museen sind und welche gesellschaftliche Funktion Museen haben. Das Glück beim Film ist, dass er so jung ist und dass man zu jener Zeit, als der Film langsam seine Museen erhalten hat, auch schon auf Traditionen anderer Arten von Museen zurückgreifen konnte. Dass es also überhaupt möglich war, so etwas zu denken: ein poetisches und polemisches Museum. Das ist für mich die Schärfung des Museumsbegriffs und es begründet auch eine gewisse Legitimität. Es ist für mich beinahe die wichtigste Legitimation für solch ein Haus – dass es diese Leistung auch vollbringt: poetisch und polemisch zu sein. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum wir dieses Programm »Archäologie und Avantgarde« genannt haben.

Für die meisten Leute ist sowohl das, was man mit Archäologie und frühen Filmen verbindet, als auch das, was man Avantgarde- oder »Experimental«-Film nennt, tendenziell fad, seltsam, eigen, Nicht-Kino. Das dazwischen ist Kino. An »Archäologie und Avantgarde« gefällt mir, dass das, was im Allgemeinen »Kino« genannt wird, von zwei Seiten her betrachtet wird. Und dass diese zwei Seiten nicht der Südpol und der Nordpol sind, weil sie eigentlich nahe beisammen liegen. Wenn sie doch der Südpol und der Nordpol sind, dann ist der Weg dazwischen, durch die Erde hindurch, plötzlich ganz kurz geworden, so dass sie, nach innen gestülpt, fast ein einziger Punkt sein können, Pol und Mittelpunkt zugleich. Die geschärfte archäologische Sicht und die Sicht der Avantgarde können sich tatsächlich berühren. Und das ist etwas, das hier im Haus von Anfang an gesehen wurde, auch deshalb, weil Kubelka Filmemacher war und sich zugleich ganz intensiv mit Kulturgeschichte und Archäologie und mit einem materialistischen Zugang zu den überlieferten Artefakten beschäftigt hat. Was da in dieser Person und aus der Praxis dieser und anderer Personen entstanden ist, unterscheidet das Haus von anderen vergleichbaren Institutionen. Es wird der Versuch unternommen, das Archäologische ernsthafter als üblich zu betreiben – ernsthafter zumindest, als es in den 60er Jahren betrieben wurde – und die Avantgarde ernster zu nehmen und in viel selbstverständlicherer Form ins Zentrum des Kinos zu stellen. Zu sagen: Das sind mit die wesentlichen Werke. Nicht unbedingt zu sagen: alle wesentlichen Werke der Filmgeschichte kommen aus der Avantgarde, wozu Kubelka in gewisser Weise tendiert, sondern ganz selbstverständlich Martin Arnold neben Vincente Minnelli zu stellen oder Tscherkassky neben Gene Kelly.

Michael Loebenstein Es gibt noch einen weiteren Verbindungspunkt, der nicht so offen liegt und von dem ich noch nicht genau weiß, inwieweit man das formalisieren kann. Aber was mir auffällt und mich beschäftigt ist eine Vorliebe für das Niedrige und das Allerbanalste, das, was gerne »all the rest« genannt wird. Die Filme also, die abseits des Kanons und abseits eines Industrieapparats produziert wird. Diese Werke haben ihre höchste Wertschätzung und Aufmerksamkeit nur in der Filmavantgarde und auf der anderen Seite in Archiven erfahren. Wenn man also die Filmgeschichte nicht als die Geschichte eines Kanons von Meisterwerken oder von bestimmten Epochen, nationalen Spielfilmtraditionen etc. versteht, sondern diesen ganzen Kosmos drum herum hinzunimmt, was Filme machen und Filme herstellen bedeuten kann. Also frühe Newsreels, Aktualitäten, Wochenschauen, Amateurmaterial, Industriefilme, Werbefilme, ethnographische Filme. Also das, was in der Quantität ganz schön viel ausmacht, was man allerdings ausschließlich in Archiven zu sehen bekommt bzw. in aus Archiven abgeleiteten Exzerpten, die dann in TV-Dokumentationen immer wieder auftauchen und jetzt verstärkt auch im Internet. Und auf der anderen Seite beginnt die akademische Wertschätzung dieses Materials gerade erst. Da gibt es für mich einen eigentümlichen Berührungspunkt in den 20er Jahren, als fast parallel einerseits an verschiedenen Orten in der Welt ein systematisches und theoretisches oder auch filmästhetisches Denken über den Umgang mit Archivmaterialien beginnt – der Kompilationsfilm oder der Archivkunstfilm und gleichzeitig die systematische Einrichtung von nationalen Filmarchiven in bestimmten Staaten, vor allem in der UdSSR, in Großbritannien und in Nazi-Deutschland. Wenn man jetzt in der Geschichte vorspult, sieht man, was Leute mit den »niedrigen Formen« gemacht haben, beispielsweise Bruce Conner, der sozusagen aus dem Mistkübel etwas herstellt, das sich fundamental als der quintessenzielle Film gebärdet: A Movie. Und man sieht, dass jetzt in der universitären Welt und in den film courses gerade erst entdeckt wird, was man ›ephemeral films‹ oder ›orphan films‹ nennt. Andersherum hat jemand wie Jay Leyda, der so ein Wanderer zwischen den Welten war, der beispielsweise als Archivar und Nachlassverwalter von Eisenstein gearbeitet hat und selber Filmemacher war und über Film geschrieben hat, bereits Anfang der 1960er Jahre ein Buch über Filme, die Filme erzeugen, geschrieben und diese Dinge zusammengebracht hat. [2] Das sind für mich beides Refugien für einen ganz großen Teil vergessenen Films.

[2]Jay Leyda: Filme aus Filmen. Eine Studie über den Kompilationsfilm, Berlin: Henschel 1967 (Originaltitel: Films Beget Films; 1964).

Volker Pantenburg Vielleicht kann man die beiden historischen Zeitpunkte, die du jetzt genannt hast, noch einmal mit den 70er Jahren zusammenbringen, wo die Avantgarde das Frühe Kino wiederentdeckt und – ob Hollis Frampton oder Ernie Gehr – mit Material arbeitet, das aus den ersten zehn, fünfzehn Jahren der Filmgeschichte stammt. Du hast eben den Begriff ›Materialismus‹ benutzt; vielleicht wäre der Begriff des ›Materials‹ eine andere Variante, diesen Zugriff zu fassen und mit dem Filmvermittelnden Film zusammenzubringen. In vielen dieser Filme gibt es eine Aufmerksamkeit für das Material. Das Material ist anwesend, mit dem Material wird etwas gemacht, sei es, dass es kommentiert wird, sei es, dass es im ganz buchstäblichen Sinn bearbeitet wird, sei es, dass es ummontiert wird. Der Schritt zum Filmmuseum und zum Filmarchiv wäre vielleicht auch der, dass sich die Zeit, die sich im Filmmaterial ablagert, wenn Filme älter werden, auch eine Arbeit am Material ist, die Züge annehmen kann, die beides einander annähern. Das Archivmaterial hat dann selbst schon den Charakter eines Kunstwerks.

Alexander Horwath Wenn Sie die Arbeit von Gustav Deutsch kennen und am Mittwoch hier waren, wissen Sie, dass dieser Aspekt in seiner Arbeit sehr schön zum Ausdruck kommt. Nicht nur die eigene künstlerische Arbeit, nicht nur die Entscheidungen des Filmemachers verändern das Material, sondern auch die unwillkürliche Arbeit im Material, die bei Deutsch in den meisten Fällen – zumindest in den Filmen, die Film ist. heißen und Nummern haben – ganz sichtbar ist. Das ist mit Kubelkas Zugang zu Entuziazm vergleichbar. In der Restaurierung dieses Films wie auch in der DVD, die wir gemacht haben, ging es nicht darum, ein sauberes Bild herzustellen. Restaurieren heißt hier nicht, jeden Kratzer und alles, was im Lauf der Zeit mit dem Film passiert ist, weg zu retouchieren und ein neues, rundes, slickes Objekt herzustellen. Das wird ja oft getan, wenn man von Restaurierungen oder »Rekonstruktionen« spricht. Und genau das macht auch Deutsch nicht. In Film ist. 1-6 und Film ist. 7-12 treten diese oft absurden und sehr schönen Schäden und Verfallserscheinungen, die bei Nitro- und anderem Filmmaterial geschehen, als ein eigenständiger Ausdruck hervor, den das Material im Laufe des Jahrhunderts gefunden hat.

Ein anderes Beispiel für das, was du sagst: Wir haben noch einen Filmausschnitt vorbereitet, der an dieser Stelle gut passt. Oft gibt es rätselhafte Fundstücke, Fragmente oder ›Reste‹ – im Sinne von ›all the rest‹ –, die man im Archiv findet und die für sich schon etwas sind, ohne dass man irgendetwas mit ihnen tun muss, außer sie – wie in diesem Fall – von Nitrofilm auf Sicherheitsfilm umzukopieren. Man darf es nicht übertreiben und sagen: Das ist jetzt ein Avantgardefilm. Es ist natürlich kein Avantgardefilm in jenem Sinn, wie wir den Begriff hier gebrauchen, aber er kommt dem Begriff trotzdem nahe. Es ist ein archäologisches Fundstück, die Scherbe eines Tongefäßes aus Ephesos, die plötzlich dank bestimmter Charakteristika, die aus der »Arbeit der Zeit« und der Arbeit von Menschen in der Zeit resultieren, in die Nähe von etwas ganz anderem gerückt wird. Das ist in diesem Fall so, und es ist in vielen anderen Fällen, denen man im Archiv laufend begegnet, ebenfalls so.

Michael Loebenstein Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann. Dauer 1 Minute. Ein Fundstück, bei dem die Zeit und Menschen mit Scheren und ähnlichem entweder Schindluder getrieben oder daraus erst einen richtig perfekten Film gemacht haben.

Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann
Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann  

[Ein Reisefilm unter der Führung von Erika Mann; (c) Österreichisches Filmmuseum]

Volker Pantenburg Kurze Nachfrage: Wieso ist das kein Avantgardefilm?

Alexander Horwath Das ist eine Frage der künstlerischen Intentionalität. Wenn man behaupten würde, dass es da mal jemanden gab, der die eigentlichen Reisefilmteile vom Material abgetrennt hat mit dem Ziel, dies hier übrigzulassen, dann würde man – zumindest in traditioneller Lesart – sagen können: Das ist ein Avantgardefilm. Wenn man hingegen annimmt, dass dies schlicht der Rest ist, das Unbrauchbare für jemanden, der eigentlich auf die Karawanen in Dschibuti und Marrakesch aus war, dann ist es keiner. Es sei denn, man sieht nicht den künstlerischen Akt, sondern den kuratorischen Akt als bestimmend an. In unserem Verständnis setzt die kuratorische Arbeit ja schon im Archiv an, z.B. bei der Entscheidung, so ein ›Restl‹ umzukopieren. Und dann: es in verschiedenen Kontexten herzuzeigen. Auf der Diagonale in Graz beispielsweise haben wir diesen Schnipsel in einem Zusammenhang mit Archivfilm, Kompilationsfilm unter dem Titel »Stoffwechsel« gezeigt, unter anderem zusammen mit Ken Jacobs’ Perfect Film. Und wir zeigen es ja auch jetzt gerade wieder in diesem Kontext. Man kann natürlich sagen, dass es in dieser Art von Präsentation, umgeben von bestimmten Worten und anderen Filmen, zu einem Avantgardefilm wird. Aber das ist für mich nicht das Wichtige; das Wichtige ist, dass der durch Archäologie entstehende Film und der durch avancierte Kunstarbeit entstehende Film miteinander reden.

Michael Loebenstein Und es ist ja immer auch eine Frage von Kategorisierungen und Umetikettierungen. Oder von Appropriation. Wenn Ken Jacobs etwas im Mistkübel findet (oder das jedenfalls behauptet), 16mm TV-Material das kurz nach der Ermordung von Malcolm X gedreht wurde, und er das unter dem Namen »Ken Jacobs« mit einem Copyright vom Zeitpunkt der Herstellung herausbringt, als er den Film kopiert hat, dann ist das eine Appropriation Art – Strategie. Aber die Grenzen verschwimmen so schön. Wir hatten im gleichen Jahr ein anderes Stück gesichert; ein anonymes Stück aus einem Home-Movie. Das ist einerseits ein Film wie dieser hier, der als Zeitdokument interessant, aber der auch ästhetisch ein sehr schöner Film ist. Bei einer Vorführung in New York hat einmal jemand ausgerufen: This is more beautiful than Brakhage. Dieser Film existiert jetzt unter verschiedenen Titeln: Einerseits Hawei, 14. MÄRZ 1938 bei uns im Museum. Andererseits unter dem Titel 14. MÄRZ 1938: Ein Nachmittag bei SixPack im Verleih, weil der Finder dieses Films, der selbst Filmemacher ist, zweifellos auch im Geiste von Ken Jacobs, einen Nachspann dahintergesetzt hat, in dem es heißt: Ein Film von Christop Weihrich. Jetzt existiert ein und derselbe Film in diesen zwei Sphären.

Alexander Horwath Du hast die Aufmerksamkeit auf das Materielle betont: Das ist sehr wichtig, aber wir dürfen nicht denselben Fehler machen wie jene, die das Materielle überhaupt nicht in Betracht ziehen. Dies wäre dann nur eine Umkehrung, also zu sagen: Es ist alles im Material und es geht überhaupt nur um das Material. Natürlich geht es um das Gespräch zwischen dem Material, dem ›Apparatus‹, den physischen Bestandteilen, den Handgriffen, die für dieses Medium notwendig sind und so weiter (Farbe, Emulsion, Kopiertechniken) und den Bild- oder Toninhalten, das was oft ›Content‹ genannt wird. Es geht darum, zu vermeiden, dass nur das eine da steht und das andere für unwichtig erachtet wird; es funktioniert eigentlich nur zusammen.

Mir fiel eben etwas ein, das in gewisser Hinsicht auch auf die Filme von Bergala rekurriert, die wir gestern gesehen haben. In dieser französischen Linie, über die ihr gesprochen habt und aus der wir einiges gesehen haben, gibt es eine sehr prominente Tradition der Kritik oder Analyse der mise-en-scène. Dieser Begriff kommt immer wieder, das geht zurück auf die Cahiers und auf Weisen, das Kino über die Inszenierung zu verstehen. Was in gewisser Weise schon eine Einengung auf das erzählerische Kino bedeutete. In dieser Tradition befinden wir uns eindeutig immer noch, auch in der Filmvermittlung. Einiges an dem, was Bergala in seinen Filmen macht, ist ein feinfühliges Lesen von mise-en-scène. Das Moonfleet-Beispiel war so ein klassischer Fall. Da fiel mir ein, dass in einem Band von Jacques Aumont aus dem Jahr 2000, einer Anthologie, in der auch viele nicht-französische und nicht-amerikanische Autoren vertreten waren, Raymond Bellour einen Vorschlag gemacht hat, um vom Wort ›Szene‹ wegzukommen. Er schreibt, dass das Problematische an diesem gewichtigen und so einflussreichen Begriff der mise-en-scène die ›scène‹ ist, und dass man viel mehr das ›mise‹ von ›mettre‹ betonen hätte sollen. Und dann bildet er eine Begriffskette und sagt, eigentlich gehe es darum, die ›scène‹ zu ersetzen und stattdessen von vielen Arten des ›mettre‹, des Setzens zu reden. Mise-en-image, mise-en-plan, mise-en-page, bis hin zu – am Wichtigsten – mise-en-pli. Ich habe vorhin die französischsprachigen Kollegen gefragt, ob ›pli‹ auch noch etwas anderes heißen kann als »Falte« oder »Knick«, und die Antwort war: nein. Ich lese diesen Begriff also als ›In Falten setzen‹. Mit dieser Folge von verschiedenen Begriffen, die Bellour da nennt, sind wir zwar noch nicht ganz beim Material, aber wir kommen weg vom Szenischen und von der Fixierung auf das Analysieren szenischer Räume. Auch die Montage kommt da herein, da kommen Zeitlichkeiten rein, Rhythmen, Dynamiken, Faltungen, Knicks. Wenn man diese erweiterte Begrifflichkeit anwendet, wird man der Art von Filmen, die wir heute gezeigt haben, und nicht nur diesen, viel näher kommen. Ich glaube, dass das, was Tscherkassky und andere da tun, ist, Faltungen zu untersuchen und selber welche zu betreiben. Das zweite ›Drübergehen‹ über existierende Filme ist auch ein Falten dieser Filme, ein In-Faltungen-Setzen oder Knicken. Ich glaube, dass es auch darum geht, von bestimmten Worten wegzukommen. Solange man von mise-en-scène redet, kann man Avantgardefilm und materialistischen Film nicht verstehen. Darum verstehen ›der Franzose‹ und die französische Cinéphilie vergleichsweise wenig vom Avantgardefilm... Und da die französische Cinéphilie und die französische Tradition der Filmtheorie und Filmgeschichtsschreibung weltweit zu den dominanten Marken gehört, haben manche Traditionen kaum Eingang in diese Literatur gefunden. Auch wenn Sie Christian Metz lesen, die Semiologie, diese Autoren können oft sehr wenig anfangen mit den anderen Weisen, Film zu denken. Jacques Aumont und Raymond Bellour sind allerdings wunderbare Gegenbeispiele.

Volker Pantenburg Nur als Ergänzung: Mir ist einmal erzählt worden, dass Raymond Bellour früh in den 70er Jahren in Vermittlungszusammenhängen an der Universität Fritz Langs Film House by the River rückwärts gezeigt hat. Das wäre etwas, das man heute hier in unser Filmprogramm hätte einbauen können. Ziel war, von der plotfixierten Lesart wegzukommen und auf anderes achten zu können. So wie Gustav Deutsch sagte, dass er immer den Ton abdrehe, um nicht zu wissen, worum es eigentlich geht und stattdessen das Bild sehen zu können. Ich möchte aber eine Sache noch kurz präzisieren: Eben bin ich bei der Gegenüberstellung von Ikonoklasmus und Cinéphilie stehengeblieben. Der Schritt, den ich noch machen wollte, ist der, dass natürlich beide Haltungen sich einem Affekt verdanken, der sich auf das Kino richtet. Insofern würde ich auch eher das Gemeinsame betonen und darauf hinweisen, dass im Ikonoklasmus das Bild und eine Wichtigkeit des Bildes vorausgesetzt ist. Und auch die cinéphile Geste, einen Film zu machen wie Alain Bergala das tut, kann so interpretiert werden, dass eine Konkurrenz zum analysierten Film entsteht und sich die Analyse quasi ikonoklastisch an die Stelle des Films selbst setzt. Es geht also nicht darum, das im Sinne eines Schematismus von Avantgarde vs. normales Kino gegeneinander zu setzen.

Alexander Horwath Ich finde dieses affektive Verhältnis zum Gegenstand ganz zentral. Natürlich wurde das vor 20 oder 30 Jahren soweit gegeneinander ausgespielt, dass man gesagt hat: Leute, die Filme so zerlegen (oder auch Semiologieprofessoren, die Filme so zerlegen), Cahiers du cinéma-Hefte ohne Fotos, die nur die Ideologien der Filme bloßstellen wollen, Avantgardefilme, strukturalistische Zugänge und Werke, die in diesem Sinn operieren, haben keinen Wert – sehr trivial ausgedrückt – oder lassen die Beziehung vermissen, die sie angeblich ja zu den Dingen, über die sie reden, haben sollten. Es gab also einen Moment, wo das eher lagerartig verteilt war. Das Spannende scheint mir zu sein, wie sich das spürbar wieder aufeinander zu bewegt hat. In den Filmen unabhängiger Künstler selbst, in Installationen oder Arbeiten auf Video von Leuten, die nicht unbedingt aus der Filmtradition oder -genealogie kommen, in theoretischen und filmkritischen Äußerungen und in kuratorischen und Projektarbeiten.