Filmvermittlung und Archiv: Gustav Deutsch
Film ist. 7-12
Der Titel von Gustav Deutschs Arbeit scheint die Antwort auf eine Frage zu versprechen und im gleichen Zuge zu verweigern. Was ist Film? Film ist, Punktum. Als wäre die Frage falsch gestellt. Dass sie Deutsch tatsächlich umgetrieben hat, kann man hier nachlesen. »Ich versuche herauszufinden, was Film für mich ist«, so beschreibt er sein künstlerisches Interesse 1993. Drei Jahre später spricht er von »den wesentlichsten Elementen des Films: Bewegung und Zeit«. Ganz im Stil der klassischen Moderne kommt diese Definition als Reduktion auf das Wesentliche daher, in Übereinstimmung mit der langen Tradition des Fragens nach dem »Wesen« »des« Films. Mit demonstrativem Pluralismus zeigt hingegen das Projekt FILM IST., in progress seit 1998, dass es die eine Definition des Filmischen nicht geben kann.
Deutsch unternimmt darin den Versuch, einige Bestimmungen des Filmischen mit Hilfe der Montage geeigneter Filmausschnitte zu bebildern: eine Arbeit, die auf allgemeinste Weise vom Film spricht und zugleich selbst Film ist. Die gekürzte DVD-Fassung von FILM IST. (1 – 12) tritt im Menü als wohlgeordnetes Nachschlagewerk der unterschiedlichen Ansätze auf (unter denen »Bewegung und Zeit« wohl nicht zufällig der erste ist). Doch ein Klick genügt, um sich zu vergewissern, dass hier nicht bloß allgemeine Definitionen »illustriert« werden. Auch vom filmvermittelnden Film, wie man ihn aus dem Fernsehen oder den DVD-Bonus-Sektionen kennt, unterscheiden sich die meist etwa fünfzehnminütigen Montagen, jede davon ein Kurzfilm in seinem eigenen Recht, signifikant. Das fängt beim völligen Verzicht auf mündliche Kommentare an und hört bei der sparsamen, gelegentlich irreführenden Beschriftung noch längst nicht auf. Dies alles rückt FILM IST. in eine eher künstlerische als wissenschaftliche Tradition: jene Praxis der Aneignung vorgefundenen Filmmaterials, die man Found Footage Film nennt und die, obwohl gewöhnlich unter die Gattung Experimentalfilm subsumiert, ihre eigene Geschichte hat. Auf letztere verweist FILM IST. (1 – 6) schon durch die Auswahl des Materials, denn das Wesen des Filmischen wird hier nicht etwa anhand von Meisterwerken des Autorenkinos durchdekliniert, sondern mit Hilfe von Ausschnitten aus wissenschaftlichen Lehrfilmen. Diese unerschöpfliche Quelle ephemeren (und daher rapidem Preisverfall ausgesetzten) Materials hatten sich schon Joseph Cornell und Bruce Conner zunutze gemacht – Pioniere des Found Footage Films, deren Glücksfunde sich auf Flohmärkten und in Trödelläden ereigneten. Demgegenüber kann man dem Glück heutzutage ein wenig auf die Sprünge helfen. So basieren sämtliche Teile des Projekts FILM IST. auf umfangreichen Recherchen, die ohne erhebliche Unterstützung durch Filmarchive und Filmarchivare nicht möglich gewesen wären (dokumentiert zum Teil hier). Zu unserem Glück haben Deutsch und seine artistic-research-Partnerin Hanna Schimek auf ihren Expeditionen durch die Filmarchive Europas eine Offenheit bewahrt, wie sie Reisenden wohl ansteht. Anders wäre es zu Funden wie dem folgenden wohl kaum gekommen.
FILM IST. 2.1 (»Licht und Dunkelheit«): Im Dunkel eines Labors leuchten technisch erzeugte Hochspannungsblitze auf. In dieses nicht sonderlich interessante Bild schleicht sich ein zweiter Lichteffekt ein, der sich dem Zufall der Beschädigung der Filmemulsion verdankt: parallel zum Blitz im linken Teil der Einstellung wandert im rechten sein Zwilling, ein Kratzer, über das Bild.
Ohne die vorgegebene Themenstellung würde er uns vermutlich kaum auffallen; so aber sorgt das Fundstück auf mehreren Ebenen für Erleuchtung. Das Stückchen Film offenbart mehr über sich (und das Medium), als es eigentlich zeigen sollte. Deutsch nennt dies »die Bilder zum Sprechen bringen«, und es setzt für ihn die Entfernung der geschwätzigen Tonspur voraus. Deren Stelle nimmt ein vages elektronisches Grundrauschen ein, was die freie, oft rein assoziative Montage von Fundstücken, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, sehr erleichtert.
Dass das oben erwähnte Bild von seinem Materialcharakter erzählt, obwohl diesem eigentlich Sektion 4 gewidmet ist, weist auf den spielerischen Charakter des scheinbar strengen Klassifikationsapparats hin. Das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Thesen wie z. B. » FILM IST. Gefühl und Leidenschaft« und deren Exemplifikation bewahrt auch der zweite Teil des Projekts, FILM IST. (7 – 12). Gemäß der Devise »Ich liebe das Ungeliebte« wird darin ein weiterer Randbezirk der Filmgeschichte abgeschritten: das frühe Jahrmarkt-Kino (das übrigens nicht zuletzt Found Footage Filmer wie Ken Jacobs vor dem Vergessen bewahrt haben).
Bekanntlich meinte Walter Benjamin, in den frühesten Fotografien die Aura ein letztes Mal winken zu sehen. Jene Aura, die seither nicht aufgehört hat, zu schwinden, verbindet sich in dem hundert Jahre alten Material von Sequenz 12.2, »Erinnerung und Dokument«, auf überraschende Weise mit dem Winken in die Kamera.
Indem Deutschs Montage immer wieder den Gegenschuss auf einen Kameramann zeigt, wird das Filmen selbst hier als Geste erkennbar, die von den Gefilmten auf unterschiedliche Weise gestisch beantwortet wird. Das Winken stellt dabei die häufigste Reaktion dar; die seltsamste, ja rätselhafteste aber liefert Papst Leo XIII., indem er seinen Segen in Richtung Kamera sendet. Wen treffen, über mehr als ein Jahrhundert hinweg, dieser Segen und diese Blicke?