Filmvermittlung auf DVD

Oksana Bulgakowas »The Factory of Gestures«

Von Wolfgang Schmidt

Im strengen Sinne betrachtet, ist diese DVD von Oksana Bulgakowa hier gänzlich fehl am Platz. Sie mag zwar alles mögliche sein – filmsoziologische Untersuchung bis zu interaktivem Medium oder auch beides zusammen – aber was sie dezidiert nicht ist: Sie ist kein Film, fällt somit auch nicht unter die Kategorie filmvermittelnder Film. Sie zitiert Filmausschnitte, zuweilen auch häufiger denselben Ausschnitt unter verschiedenen Prämissen und Aspekten, und entwirft über die 160 Minuten Laufzeit der DVD so etwas wie einen ganz groben chronologischen Bogen, funktioniert aber im Detail überhaupt nicht chronologisch, auch wenn manchmal einer der sieben Hauptteile in Unterkapiteln chronologisch abgehandelt wird. Zeit ist hier mehr der Rahmen gesellschaftlicher Entwicklung, die natürlich nicht nur mit der Entwicklung des Kinos verkettet ist, sondern die Entwicklung des einen ist immer auch die Entwicklung des anderen – das lässt sich gar nicht anders denken. Der erste von sieben Teilen beginnt zwar um 1900, aber eigentlich kann man an jeglicher Stelle des bearbeiteten Zeitraums bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts einsteigen. Und tatsächlich wird man nach Sichtung eines Unterkapitels der sieben Hauptteile stets auf das Menü zurückgeworfen und muss sich für einen erneuten Zugriff auf das Material entscheiden. Die Konvention fordert vom Film einen Anfang und ein Ende und ein ablaufendes Dazwischen. Das alles liegt hier nicht vor; und wenn, dann jeweils nur für ein Unterkapitel. Also was ist THE FACTORY OF GESTURES dann eigentlich?

Der Standpunkt dieser Arbeit ist zweifelsfrei ein filmwissenschaftlicher. Und die Sicht zielt nicht darauf, einen einzelnen Film zu erkennen, sondern konzentriert sich auf einen Bedeutungsträger unter vielen filmästhetischen Bedeutungsträgern eines jeglichen Films, der Menschen abbildet: Die menschliche Geste. Gemeint ist hier zuvorderst die zeichenhafte Körperbewegung, weniger eine komplexe Handlung, die sich in ihrer Symbolik auch als Geste verstehen ließe. Aus Gesten dieser Kategorie konzipiert ein Autor wie Jean Genet seine imaginierten Welten. Mörder morden hier um einer ästhetischen Geste willen, nicht des Mordens wegen. Eine stillgestellte Welt, die den Schrecken in Schönheit bannen will. Die Gesten, um die es bei Oksana Bulgakowa geht, dagegen sind schwatzhaft und wollen die Handlung voranbringen. Wenn diese Gesten anfangen, sich zu überschlagen, wenn sie sich selbst überholen und rhetorisch leer werden, nur noch ein-eindeutig bedeuten können und damit lächerlich werden, beginnt die Ablösung durch ein neues Repertoire der Gesten, die der offensichtlich stattgefundenen gesellschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung des Mediums Film eher Rechnung trägt, als die zum Klamauk verkommene alte Gebärde, deren symbolischer Gehalt sich gänzlich verzehrt hat. Man kann vielleicht von einer stetig schwelenden Krise der Repräsentation sprechen, die für die Geschichte des Films ein wesentliches produktives Movens darstellt und auf dem Weg zu jeweils zeitgenössischen Realismusvorstellungen immer wieder neue Manierismen generiert, schrieb ich an anderer Stelle.

Im Ursprung allen sprachlichen Ausdrucks treten das Zeichen und was es bezeichnen, also repräsentieren will, nicht auseinander, d.h. am Anfang der Sprachbildung ist der Ausschrei im Angesicht des Schreckens auch der Schrecken selbst, nicht nur seine Repräsentanz (vgl. Türcke, Christoph: Philosophie des Traums, München 2008). Analog auf einer sehr bescheidenen individuellen Ebene verstehe ich das Sehen Lernen von Film in früher Jugend ähnlich. Der Schrecken eines Horrorfilms war für mich seinerzeit nicht repräsentierter, gehegter Schrecken sondern das pure Grauen, vor dem es kein Halten gab. Und wenn im frühen sowjetischen Film ein Bauernmensch sich beidhändig auf die Schenkel schlägt, ist das in seiner Naivität noch gar nicht als Übersetzungsleistung verstanden worden, sondern als direkter Ausdruck ungetrübter Freude. In einer sich sukzessive aufklärenden Gesellschaft lässt sich diese vorgegebene Unvermitteltheit natürlich nicht lange halten.

Den Fragen nonverbaler Repräsentanz und damit auch von inhärentem nonverbalen Weltverständnis geht Oksana Bulgakowa letztlich in der vorliegenden Untersuchung nach. Der Anschluss des sowjetischen Menschen an die kulturelle Entwicklung des Westens scheint ihr in dem Augenblick am Anfang der 60er Jahre gegeben, da das ausbalancierte Stöckeln durch die Großstadt einer Italienerin, die von einer Französin gespielt wird – gemeint ist Jeanne Moreau in LA NOTTE – nicht mehr von einer sowjetischen Schauspielerin der gleichen Ära zu unterscheiden ist. Die Frauen in beiden Sphären haben inzwischen die Fertigkeit erlangt, sich auf hochhackigen Schuhen sicher durch einen Film zu bewegen. Welche kulturelle Niveauanhebung das für die Sowjetunion auf breiter Basis voraussetzt, lässt sich nun anhand der FACTORY OF GESTURES ermessen. Es ist das selber audiovisuelle Forschungsergebnis eines audiovisuellen Forschungsprojekts, ein Lehrmittel und damit vermittelnd, das sich den Konventionen des Films entzieht, um die Freiheit der Verknüpfung zu erweitern. Insofern eine Weiterentwicklung von Film in klugeschem Sinne.

... it is now impossible to distinguish the soviet woman from a french actrice playing an italian ...

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... double gesture ... symmetrical movements of both arms as a sign of the folkloric and simple hero ...

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... lighting a cigarette - literally sparking someone's interest - is a common flirtation device in western films - in soviet cinema men and women do not light each others cigarettes - however the scene often takes place between men ...

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The Factory Of Gestures – Body Language In Film

Ein audiovisuelles Forschungsprojekt von Oksana Bulgakowa; DVD-9 – NTSC – kein Regionalcode – 160 min.; Sprachen: Englisch / Russisch; PPMedia & Stanford Humanities Lab

Das komplette Script (Englisch/Russisch) der DVD ist zu finden unter: www.factoryofgestures.com/script

Beispielclips

Aus dem Klappentext (Übersetzung Wolfgang Schmidt):

»Die Gestenfabrik

Der Augenblick, in dem die neuen Techniken der Fotografie, des Films und der Massenverbreitung von Bildern die sozialen und kulturellen Routinen des 20. Jahrhunderts zu erschüttern beginnen, ist in Russland besonders einschneidend. Hier führt die Gleichzeitigkeit von künstlerischen Experimenten mit großen sozialen Umwälzungen und der Suche nach einem neuen Körperausdruck zuweilen zu unvergleichlichen Ergebnissen. Der Bruch der Revolution mit sozialen Normen und Traditionen unterwarf den Gestencode der sowjetischen Gesellschaft einem radikalen Wandel.

Die Abschaffung gestischer Beschränkungen wurde als Befreiung des natürlichen Menschen gedeutet: Schlechte Umgangsformen wurden als sozialverträglich neu bewertet, einige Körpertechniken, die dem privaten Sektor angehörten – wie Waschen und Freiübungen – wurden jetzt im öffentlichen Raum akzeptiert. Einige Gesten der öffentlichen Sphäre wiederum wurden in sehr private Umgebungen überführt. Das sowjetische Kino, das ein neues soziales Modell widerspiegeln aber auch erfinden musste, benutzte zu diesem Zweck vielschichtige Quellen: die rhetorischen Gesten politischer Führer, die symbolischen Gesten des imperialen Codes, die beredten Gesten des Theatermelodrams, die neuen Gesten dekadenter, extravaganter, hysterischer Körper, die Körpersprache amerikanischer Filmstars, die Sportkultur und den Taylorismus.

Der Film gab utopische, zuweilen widersprüchliche Modelle neuen Körperverhaltens vor, die im Alltag kopiert werden sollten. Eine neue Gesellschaft, bestrebt sich von alten Ritualen zu befreien, entwickelte neue Bekleidungsmoden und neugestaltete Lebensräume, neue Standards der Wahrnehmung und eine neue Körpersprache für einen neuen anthropologischen Typ: Homo Soveticus, eine sehr spezielle Ausprägung des Menschen der Moderne.«

Filmografie