Filmvermittelnde Experimentalfilme

»Standard Gauge« (Morgan Fisher)

Standard Gauge macht eine der frühesten und weitreichendsten Weichenstellungen der Filmgeschichte zum konzeptuellen und inhaltlichen Ausgangspunkt: Die Format-Festlegung des Rollfilms auf eine Bildbreite von 35mm, später als »Standard Gauge« bekannt geworden.

Diese geschichtliche Phase ist eine der letzten Etappen der unmittelbaren Vorgeschichte des Kinos und mit den Namen Thomas A. Edison und William K.L. Dickson (ein Angestellter bei Edison) verbunden. In Morgan Fishers Film ist die Erzählung dieser Festlegung – analog zu ihrer historischen Relevanz als ›Prolog vor dem Kino‹ - wie ein Prolog vor dem eigentlichen Film als Rolltext positioniert. Zu lesen ist über: Dicksons Entscheidung, wie der Film an den Rändern zu perforieren sei, seine Festlegung auf ein Format, beides in der Zeit vor 1894. Das erste öffentliche Kinetoscope-Salon in New York im April 1894, der schnelle Erfolg und Export nach Europa. Die Übernahme der Lumières, die von Einzelbetrachtung auf Projektion umstellen, aber am Rollfilm und seinen Maßen festhalten.

»The width of 35 millimeters was established at the beginning of film, and it was adopted by the motion picture industry in America and abroad. As other gauges made their appearance, 35mm also came to be known as standard gauge.«

[1]Der vollständige Text zu Standard Gauge ist abgedruckt in Scott MacDonald: Screen Writings. Scripts and Texts by Independent Filmmakers, Berkeley: University of California Press 1995, S. 178-189.

Nach diesen letzten Sätzen des schnell ablaufenden und sehr langen Rolltexts die Titeleinblendung: STANDARD GAUGE. [1]

Dieser Titel ist zugleich eine der Pointen des Films, denn Morgan Fishers Film selbst ist eben nicht auf 35mm, sondern auf dem im Avantgarde- und Experimentalfilmsektor üblicheren 16mm-Material gedreht; die Länge des Films bemisst daran, wie lang eine durchgehende Einstellung bei diesem Material sein kann.

Morgan Fisher über Standard Gauge :

»Das Ausgangsmaterial sind Sequenzen aus 35-mm-Filmen, also jenem Format, das einst als Normmaß (›standard gauge‹) bekannt war. Sein Macher sammelte diese Stücke, während er in und im Umkreis der Filmindustrie arbeitete. Sie sind eine vielfältige Mischung aus narrativen Sequenzen, Trailern, Nachrichten, Werbungen sowie Vor- und Nachspannen. Die Methode des Films, der im 16-mm-Format gedreht wurde, ist, diese Ausschnitte nacheinander in extremer Nahaufnahme zu zeigen, was eine einzige 32-minütige Aufnahme ergibt. Das ist für 16 mm praktisch die maximale Aufnahmelänge und damit wesentlich länger, als es mit 35 mm möglich wäre. Der Hauptteil des Films ist also diese einzelne durchgehende Szene, vor der ein ausführlicher Text durchläuft, der den geschichtlichen Ursprung des 35-mm-Formats als Normmaß der Filmindustrie zusammenfasst. Während jede der Originalsequenzen gezeigt wird – es sind im Ganzen etwa 30 –, beschreibt meine Stimme einen damit in Verbindung stehenden Punkt: die Umstände, unter denen sie gesammelt wurden z.B. oder auch einen technischen Bildaspekt wie beispielsweise den Produktionsprozess. Standard Gauge ist also eine Art Collage oder Found-Footage-Film. Anstatt aber aneinander geschnitten projiziert und so zum Leben erweckt zu werden wie in den Filmen von Bruce Conner, bleiben die Filmteile von Standard Gauge:film getrennt und werden einer nach dem anderen als neutrale Filmfragmente dem Publikum zur Inspektion präsentiert, also quasi als durchscheinende Zelluloidobjekte. Das Publikum erlebt sie wie ein/eine CutterIn oder ein/eine NegativcutterIn, der/die mit dem Filmrohmaterial hantiert und es organisiert.

[2]Morgan Fisher über Standard Gauge. Zu finden auf der Netzseite von Constanze Ruhm: Fate of Alien Modes, Ausstellung in der Wiener Secession 2003.

Obwohl der Film aus einer einzigen durchgehenden Aufnahme besteht, passt jeder Einzelteil in den Rahmen und moduliert so das Ganze, was eine Abfolge von Aufnahmen innerhalb eines Gesamtfilms bewirkt. Der Film kombiniert also zwei Konventionen, die sonst für inkompatibel oder gar antagonistisch gehalten werden: Schnitt – die Konstruktion eines Films durch Montage – und Langaufnahme, das leidenschaftslose Drehen einer Szene, die im Hinblick auf einen Zweck inszeniert wird. Wie Standard Gauge die beiden großen Konventionen der Filmkomposition vermischt, führt er auch narratives und nicht narratives Filmemachen zusammen. Indem er die Scherben der Industrie Bild für Bild untersucht, entdeckt er einige der Methoden und Themen des Experimentalfilms wieder, die in Hollywood sozusagen Einzug gehalten haben. Zugleich verschlingt und usurpiert der Film das Material der kommerziellen Filmindustrie, indem er sie zu seinem Thema macht. Standard Gauge impliziert also eine Art Wechselbeziehung oder Abhängigkeit zwischen zwei Filmmethoden, die nach konventioneller Meinung durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sein sollen. Durch die wechselseitige Befragung zwischen dem Industrieformat 35 mm und dem 16-mm-Format des unabhängigen oder Amateurfilmemachers legt Standard Gauge nahe, Film jeglicher Art zu vereinen.« [2]

Filmografie