Filmvermittlung und Filmrestaurierung

Versionenvergleiche und ihre Verfahren

Von Stefanie Schlüter

In filmvermittelnden Filmen aus kinemathekarischen Zusammenhängen findet sich häufig das Verfahren des Vergleichs von Filmbildern. So werden nicht selten die Arbeitsergebnisse des Restaurierungsprozesses im Vorher-Nachher-Vergleich vorgeführt: Dabei wird das Bild vertikal in der Mitte geteilt, sodass in der einen Bildhälfte gealtertes oder beschädigtes Material zu sehen ist, während in der anderen Bildhälfte das restaurierte Material gezeigt wird. In solchen Beiträgen geht es also vorwiegend um die Materialhaftigkeit des Films sowie um Techniken der Filmrestaurierung.

Dagegen stellt der Versionenvergleich unterschiedliche Filmfassungen einander gegenüber – mit dem Ziel, die Differenzen der Gestaltung zwischen den Versionen herauszustellen und diese in ihren jeweiligen historischen Kontexten zu erörtern. In diesem Sinn ist der Versionenvergleich ein Forschungs- und Analyseverfahren, das Wissen über Archivmaterial produziert und vermittelt. Im Folgenden werden anhand von drei Beispielen aus filmvermittelnden Filmen drei Verfahren des Versionenvergleichs vorgestellt.

Nacheinander

Artem Demenoks Film Dem Panzerkreuzer Potemkin auf der Spur (D 2007), als Bonus auf der DVD »Panzerkreuzer Potemkin – Das Jahr 1905« (Transit-Film) veröffentlicht, geht ausführlich auf die verschiedenen zensurbedingt entstandenen Fassungen von Eisensteins Revolutionsfilm ein. Besonders stark von der Zensur betroffen war die so genannte »Treppensequenz« – das Massaker auf der Hafentreppe von Odessa. Um die Zensureingriffe zu erläutern, werden in Demenoks Film zwei Fassungen des Panzerkreuzer Potemkin (Regie: Sergej Eisenstein, UdSSR 1925), eine russische Fassung von 1950 und die im Jahr 2005 durch Enno Patalas und Anna Bohn rekonstruierte Fassung, miteinander verglichen. Die Fassung von 1950 weist noch viele Spuren derjenigen Änderungen auf, die bis 1930 in Deutschland am Originalnegativ des Films durchgeführt worden sind. Dagegen stellt die Fassung von 2005 den Versuch dar, die russische Premierenfassung von 1925 so genau wie möglich zu rekonstruieren.

Der Versionenvergleich, den Demenok hier anstellt, geht anhand verschiedener Zensurbeispiele aus der Treppensequenz immer nach demselben Muster vor: Zunächst ist ein Ausschnitt der Treppensequenz aus der Fassung von 1950 zu sehen; dazu weist ein Off-Kommentar auf fehlende Einstellungen oder veränderte Einstellungsfolgen in dieser Fassung hin. Darauf folgt der entsprechende Ausschnitt aus der rekonstruierten Fassung von 2005, in die die fehlenden Einstellungen wieder eingefügt und die Einstellungsfolgen wieder in ihre ursprüngliche Reihenfolge gebracht worden sind. Erkennbar wird, dass die Zensureingriffe vor allem Einstellungen betreffen, die als besonders brutal wahrgenommen wurden: So fehlen einige Einstellungen aus Szenen, die einen sterbenden Jungen sowie die Erschießung seiner Mutter zeigen; die Einstellungen eines blutüberströmten Kleides einer Frau (linkes Bild) sowie die eines Kosaken, der mit einer Peitsche zum Schlag ausholt (rechtes Bild), fielen ebenfalls der Zensur zum Opfer.

Panzerkreuzer1 Panzerkreuzer2

Auch das durch die Montage bestimmte Verhältnis von Ursache und Wirkung wurde durch die Zensur »gerade gerückt«: Der Beginn der Sequenz in der 1950er Fassung zeigt abweichend von der russischen Premierenfassung bzw. ihrer Rekonstruktion zunächst schießende Soldaten (Ursache) und danach das Gesicht einer panikerfüllten Frau (Wirkung). Bei diesem Zensurbeispiel verzichtet Demenok ganz darauf, die rekonstruierte Version zu zeigen. Hier muss sich der Zuschauer die ursprüngliche Einstellungsfolge, in der erst die Wirkung und dann die Ursache gezeigt wurde, selbst vorstellen.

Demenoks Vergleich wirkt auch deshalb stellenweise wenig anschaulich, weil zunächst die zensierte Fassung gezeigt und dazu im Off-Kommentar auf fehlende Einstellungen hingewiesen wird, die jedoch – weil sie herausgeschnitten wurden – nicht zu sehen sind. Erst danach wird die um die zensierten Einstellungen ergänzte rekonstruierte Fassung vorgeführt und das Fehlende im Bild sichtbar.

Nebeneinander

Stellt Demenok seinen Versionenvergleich anhand der Treppensequenz im Modus des Nacheinanders verschiedener Filmversionen an, operieren andere Filme im Modus des Nebeneinanders mittels Split-Screen. So enthält beispielsweise der von der amerikanischen Firma Criterion produzierte DVD-Bonus A Physical History of »M« über die Geschichte von Fritz Langs frühen Tonfilm M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931) einen Versionenvergleich zwischen der deutschen und der französischen Sprachfassung dieses Films. Die direkte Gegenüberstellung der französischen Fassung, oben links im Bild, und der deutschen, unten rechts, ermöglicht es dem Zuschauer, die voneinander abweichende Auflösung der Gerichtsszene in den verschiedenen Fassungen von M nachzuvollziehen.

1.Gegenschuss_Physical 2.Großaufnahme_Physical

Der knappe Off-Kommentar vertraut auf die Anschaulichkeit des Verfahrens und die Wahrnehmung des Zuschauers: »Note how much more editing exists in the French version. Lang leaves Lorre’s performance relatively untouched.« Nach diesem Off-Kommentar ist der Ton der französischen Version zu hören, während die französische und die deutsche Version in diagonalen Split-Screen gleichzeitig ablaufen. Zu sehen ist, wie in der deutschen Fassung Peter Lorres Monolog vor dem Fehmegericht am Ende von M in beinahe einer einzigen Einstellung gezeigt wird, der Monolog in der französischen Sprachfassung hingegen durch Einstellungswechsel unterbrochen ist. So gibt es mehrfach einen Gegenschuss auf Lorres »Gegenüber« (linkes Bild) und Wechsel der Kamerapositionen, aus denen Lorre aufgenommen wird, sowie einen Ranschnitt an Lorres Gesicht in Großaufnahme (rechtes Bild). Über die produktionstechnischen Gründe für die Montageunterschiede lässt sich nur spekulieren: Möglicherweise war Lorres Französisch nicht perfekt und der Monolog musste in kurze Einheiten unterteilt gedreht werden.

Nebeneinander plus Nacheinander

Der Bonusfilm Versionenvergleich (Regie: Michael Loebenstein und Georg Wasner, A 2006), veröffentlicht auf der DVD »Blind Husbands« (Edition Filmmuseum), stellt die allgemein bekannte amerikanische Fassung des Films Blind Husbands (Regie: Erich von Stroheim, USA 1919) der österreichischen Fassung gegenüber, die 1982 als Nitratkopie an das Archiv des Österreichischen Filmmuseums (Wien) übergeben wurde und auf den Sommer 1921/Winter 1922 datiert wird. [1] Der Vergleich stützt sich auf vier Sequenzen des Films und zeigt in einem ähnlichen Verfahren wie A physical history of »M«, im diagonal angeordneten Split-Screen, wie sich beide Versionen in Zwischentiteln, Einstellungslängen und Montage voneinander unterscheiden. Im Nebeneinander der Filmfassungen fällt auf, dass die Einstellungen der amerikanischen Fassung im Allgemeinen kürzer sind als die der österreichischen; ferner gibt es in der österreichischen Fassung Einstellungen, die in der amerikanischen fehlen.

In ihrer Analyse rücken Loebenstein/Wasner den verschiedenen Filmversionen mit besonders anschaulichen Methoden auf den Leib: Um die unterschiedlichen Einstellungslängen nachzuweisen, lassen sie zunächst die zu vergleichenden Sequenzen nebeneinander ablaufen – oben rechts die österreichische Fassung, unten links die amerikanische (linkes Bild). Es folgt eine weitere analytische Operation: Zu sehen sind dieselben Einstellungen parallel im Split-Screen, jedoch werden die in der amerikanischen Fassung gekürzten Einstellungen durch Schwarzbilder aufgefüllt (mittleres Bild), sodass zum einen die Kürzungen wahrnehmbar werden und zum anderen beide Filmversionen nun synchron ablaufen (rechtes Bild).

Blind_Husbands1 Blind_Husbands2 Blind_Husbands3

Dieser analytische Vergleich der Einstellungslängen ist alles andere als banal, wirft er doch die Frage auf, wie es kommt »daß die spätere Sprachfassung eines kanonischen US-Stummfilms länger ist als die ›Originalfassung‹ – obwohl gerade Blind Husbands als der einzige ›originalgetreu‹ überlieferte Film Stroheims gilt«. [2] Laut Caneppele/Loebenstein handelt es sich bei der allgemein bekannten amerikanischen Fassung nicht um die Premierenfassung von 1919, sondern um eine von Universal Pictures im Jahr 1924 gekürzte Fassung des Films. Dabei wurden Kürzungen – wie die analytische Split-Screen-Operation am digitalen Schneideplatz beweist – an fast allen Einstellungen vorgenommen. Da das Originalnegativ des Films nicht mehr existiert, wird die österreichische Fassung gegenwärtig als die älteste und am vollständigsten erhaltene Fassung von Blind Husbands angesehen.

Eine interessante Variante vergleichender Analysemethoden kommt im letzten Drittel des Films von Loebenstein/Wasner zur Anwendung, wenn sie das Nacheinander mit dem Nebeneinander kombinieren: Zunächst werden – ähnlich wie in Demenoks Dem Panzerkreuzer Potemkin auf der Spur – Einstellungsfolgen aus beiden Versionen von Blind Husbands bildfüllend nacheinander gezeigt, dann im Split-Screen und mit Schwarzbild nebeneinander wiederholt. Mit diesem Verfahren machen sie auf anschauliche Weise für den Zuschauer überprüfbar, welche Einstellungen in der österreichischen Version existierten, die aus der englischen herausgekürzt worden waren. Hätte Demenok in seinem Vergleich zwischen der zensierten und der rekonstruierten Fassung von Panzerkreuzer Potemkin diese Kombination beider Verfahren (sprich: Nacheinander plus Nebeneinander) zur Anwendung gebracht, wären die komplexen Zensureingriffe auch für den Laien transparent geworden.

[1]Vergleiche dazu den Text »Über den Film« von Paolo Caneppele und Michael Loebenstein
[2]Ebd.