Filmvermittlung und Filmpädagogik

Filmvermittlung und pädagogische Ausbildung

Ein Gespräch mit Bettina Henzler und Winfried Pauleit

Das Gespräch führten Stefanie Schlüter und Stefan Pethke am 27. April 2009 in Berlin.

Das Institut an der Universität Bremen, an dem ihr beide arbeitet, heißt »Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik«. Wie verhält sich die Filmvermittlung, die ihr zu einem Schwerpunktbereich eurer Arbeit erklärt, zur »Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik«?

Winfried Pauleit Vielleicht zunächst zur Geschichte: An der Universität Bremen gibt es seit Jahren den Ansatz einer integrierten Medienwissenschaft. Das heißt: Innerhalb eines kulturwissenschaftlichen Fachbereichs, an dem das »Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik« ansässig ist, gibt es unterschiedliche medienwissenschaftliche Studienanteile und Forschungspositionen – und dazu gehört auch der Film. Schon vor meiner Zeit gab es am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik einen Filmwissenschaftler: Irmbert Schenk, den ehemaligen wissenschaftlichen Leiter des »Internationalen Bremer Symposium zum Film«, das seit 1995 als Zusammenarbeit zwischen Kino 46 und Universität besteht. Schenk hat das Symposium die ersten zehn Jahre geleitet und bekannt gemacht, dann habe ich diese Position übernommen. Jedes Jahr ist eine Publikation erschienen (erst im Schüren Verlag und jetzt bei Bertz+Fischer). Und so gibt es eine lange und sehr starke Tradition dieser Film- und Medienwissenschaft am Bremer Institut. Sie besteht schon seit zwanzig Jahren.Und vor diesem Hintergrund gab es im Jahr 2002 eine Ausschreibung auf eine Professur für »Kunstpädagogik und Neue Medien«. Gedacht war wohl zunächst an einen Fokus auf Netzkunst. Dagegen habe ich bei meiner Bewerbung formuliert, Netzkunst sei ein vergleichsweise kleiner Bereich und außerdem relativ uninteressant nach dem Platzen der »DotCom«-Blase. Viel interessanter ist die ganze Vorgeschichte, die mediale Entwicklung von Film und Kino. Das hat etwas mit Kunst, Kunstgeschichte und Neuen Medien zu tun – aber auch mit Vermittlung. Walter Benjamin, Rudolf Arnheim, Erwin Panofsky und viele andere haben den Film schon in den 1920er Jahren sehr genau verortet und als Neues Medieum im Verhältnis zur bildenden Kunst beschrieben. In dieser Tradition würde ich mich auch sehen. Dass man sich aus der Kunstwissenschaft heraus ernsthaft mit Film auseinandersetzt, diese Position hat sich seit den 1990er Jahren wieder belebt. Zuvor sind Personen richtig daran gescheitert, dass sie Film in der Kunstgeschichte zum Gegenstand machen wollten; sie haben keine Professur erhalten und wurden so aus dem Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt. Auch in der Kunstpädagogik gab es lange Zeit Vorbehalte gegenüber dem Film. Es gab historisch gesehen eine starke Abwehrbewegung der Pädagogik gegen dieses Massenmedium, die eigentlich erst in den 70er Jahren aufgebrochen wurde. Erst als man sich dort von der Kunst auf die Visuelle Kommunikation verlegte, entstand eine Öffnung der ästhetischen Erziehung. Dabei ging es nicht mehr um die Kunstgegenstände selber, sondern um die kommunikativen Prozesse und um Alltagserfahrung im Sinne einer Auseinandersetzung mit Populärkultur als Ort für Gesellschaftsdiagnostik, à la TV-Kritik, Trivialliteraturkritik, Kritik der Boulevardpresse einerseits, aber andererseits auch um den ästhetischen Gehalt des Trivialen. Und an dieser Stelle kam auch die Frage des Films dazu, seine persönlichkeitsbildende Funktion, ohne dass sie an vielen Stellen explizit thematisiert worden wäre. Im Zuge dieser Entwicklungen hat beispielsweise Helmut Hartwig, bei dem ich promoviert habe, einen Aufsatz über Filmstandbilder mit dem Titel veröffentlicht: »…kleine Zeichnungen aufblasen, Gummibärchen zu Bären vergrößern, Zulieferkunstwerke totfilmen …«. [1] Von diesem Aufsatz wusste ich, als ich mit meinem Promotionsthema [2] anfing, noch nichts. Bis heute gibt es (bis auf wenige Ausnahmen) in der Kunstpädagogik nur eine marginale Auseinandersetzung mit dem Film jenseits eines engen Verständnisses von Avantgarde oder Künstlerfilm. Allerdings ist vor kurzem ein Buch erschienen »Grundkurs Film«, das neue Maßstäbe gesetzt hat. [3]

[1]Erschienen in: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 42 / 1980, S. 36 – 39.
[2]Winfried Pauleit: Filmstandbilder: Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld 2004.
[3]Michael Klant und Raphael Spielmann: Grundkurs Film 1. Kino Fernsehen Videokunst. Braunschweig: Westermann Schroedel 2008.

Bettina Henzler Wenn man von der pädagogischen Seite her argumentiert, sollte die seit den 1980er Jahren in Deutschland ausgeprägte Medienpädagogik, die in den 1990ern sehr stark von den Neuen Medien dominiert war, nicht unerwähnt bleiben. Man könnte sagen, dass sich seit Anfang 2000 wieder verstärkt die Frage stellt, was für eine Rolle der Film in diesem Kontext eigentlich spielt. Interessant ist daran, dass der Film jetzt stärker in die Kunstpädagogik integriert wird. Das ist ja nicht nur in Bremen so: Es gibt auch in Freiburg und Lüneburg mittlerweile Kunstpädagogik-Institute, die sich der Filmvermittlung annehmen. Das finde ich eine interessante Alternative, weil die Medienpädagogik in dem von Dieter Baacke dominierten Ansatz, der auf die so genannte »Medienkompetenz« setzt, stecken geblieben ist. In diesem subjektzentrierten Ansatz geht es primär um das Handeln des Subjekts, aber der filmische Gegenstand gerät dabei aus dem Blick. Aus der Kunstpädagogik heraus kann man jetzt vielleicht einen neuen Ansatz finden: Deshalb haben wir dann auch versucht, an die französische Filmpädagogik anzuknüpfen.

Kann man sagen, dass die Medienpädagogik das handelnde und sich selbst erfahrende Subjekt im Auge hat, während sich die Kunstpädagogik dem rezipierenden, dem sinnlich wahrnehmenden Subjekt zuwendet? Uns scheint, dass es in medienpädagogischen Ansätzen häufig eher um die Frage geht, was das Subjekt beim Filmsehen über sein eigenes Leben erfährt – also eher um eine ethische Dimension der Filmrezeption.

Bettina Henzler Und um die gesellschaftliche! Ich denke, innerhalb der Kunstpädagogik gibt es die Komponente der Selbsterfahrung auch, aber verglichen mit medienpädagogischen Ansätzen nimmt die Kunstpädagogik die Kunst selbst mit ihren ästhetischen Qualitäten ernst. Wenn man das weiterdenkt, ist Selbsterfahrung eigentlich auch nur möglich, wenn man die Kunst ernst nimmt und nicht bei sich stehen bleibt!

Winfried Pauleit Ich habe gerade einige Hausarbeiten von Studierenden gelesen, in denen die Position von Dieter Baacke mit dem Ansatz von Alain Bergala verglichen wird. Dabei ist mir noch einmal klar geworden, dass die Medienpädagogik auf einer Idee von Jürgen Habermas aufbaut: der Theorie des kommunikativen Handelns. Sie ist also auf sprachliche Kommunikation angelegt und verfehlt den Bereich der bildlichen Ästhetik, der darin nur ganz peripher vorkommt, weil das kommunikative Handeln logisch und kognitiv nachvollziehbar ist. Dabei wird alles, was im Bild aufgehoben und vielleicht »unscharf« ist, weil es sich nicht 1:1 in kommunikatives Handeln umsetzen lässt, nicht erfasst! In der Kunstpädagogik gehen wir von der Ästhetik aus und von der ästhetischen Erfahrung. Diese impliziert ein anderes Handeln jenseits des Alltags – Ästhetik, wie man sie beispielsweise von Schiller, dem Begründer der ästhetischen Erziehung, kennt. Ästhetik ist ein eigener Bereich, der dazu da ist, bestimmte Dinge durchzu*spielen*. Und so zielt auch die Kunstpädagogik auf ein handelndes Subjekt ab, dessen Handeln allerdings anders ausgerichtet ist: Es handelt in einem ästhetischen Feld und dieses Handeln wiederum wirkt in die Gesellschaft zurück. Wenn man etwas unter einem ästhetischen Gesichtspunkt betrachtet, tritt man aus dem Alltag heraus. Daraus leitet sich eine wichtige Unterscheidung bei allen Medienproduktionen ab, auch bei der Bewertung der Erfahrung von Computerspielen. Was ist Gewalt und was ästhetisches Spiel? Es gibt da einen blinden Fleck in der Medienpädagogik, den sie meines Erachtens nicht wirklich bannen kann, weil sie kein überzeugendes Verständnis von Ästhetik hat.

Wäre die These produktiv zu machen, dass ein »popular culture«-Ansatz das beides zusammenführt, indem man sagt: Das Ästhetische schafft einen eigenen Alltag, eine eigene Kultur, ein eigenes Kollektivverhalten? Dazu würde auch eine ab den 80ern hierzulande forciert betriebene Intellektualisierung von Pop gehören, die vermutlich relevant war auch für Änderungen in der Film- oder Medienpädagogik, von denen ihr beide gesprochen habt.

Winfried Pauleit Grundsätzlich würde ich dem zustimmen, allerdings gibt es unterschiedliche Schulen, die dies unterschiedlich bewerten – auch von den »cultural studies« herkommend. Da gibt es gerade im angelsächsischen »cultural studies«-Bereich die Tendenz, die Ästhetik nicht wirklich zu berücksichtigen, sondern vor allen Dingen auf das Politische und die kulturellen Prägungen von race, class und gender zu referenzieren. Dagegen setzen einige amerikanische Ansätze, etwa von W.J.T. Mitchell, einen ganz starken Akzent auf die Fragen des Bildes und der Ästhetik.

Und auf der anderen Seite gibt es eine Tendenz, nach der Kunst und Wissenschaft aufeinander zustreben, beispielsweise im Feld der »visual anthropology«, wo ein deutlicher Zug Richtung Kunst geht, wo sich eine Kritik am Wissenschaftsdiskurs radikalisiert bzw. radikal subjektiviert, sodass die extrem subjektiven Äußerungen eigentlich auch schon wieder Kunst produzieren.

Winfried Pauleit Ich habe gerade die Doktorarbeit eines Ethnologen gelesen. In diesem Fall geht das soweit, dass der Autor als Wissenschaftler und Filmemacher im Grunde gar keine wissenschaftliche Arbeit mehr schreibt, sondern nur noch einen Film dreht, der sich als Kunstwerk versteht, für den er aber gleichzeitig einen Doktortitel beansprucht. Problematisch ist die Arbeit aus meiner Sicht insofern, als hier ein Mann Frauen in Portugal und Afrika filmt. Es werden unglaublich viele Klischees reproduziert und das wird dann als künstlerische Strategie innerhalb der visuellen Anthropologie verkauft, die aber letztlich davon lebt, dass die Frauen so sexy sind.

Bettina Henzler Also kommt die Wissenschaft doch nicht ohne Worte aus! – Damit sind wir beim filmvermittelnden Film.

Genau: Dieses Reibungsverhältnis zwischen der Kunst auf der einen Seite und Wissenschaft auf der anderen ließe sich gut auf die Bereiche von Kunstpädagogik und Filmvermittlung übertragen: Kunst und Pädagogik, Film und Schule – wie kommen diese inkommensurablen Kategorien zusammen? Weiter gedacht: Wie kann Filmvermittlung in der Schule anders als sprachlich-diskursiv stattfinden? Und bezogen auf den filmvermittelnden Film wäre es interessant, die Frage nach dem (gesprochenen) Kommentartext zu diskutieren.

Bettina Henzler Man könnte jetzt natürlich fragen: Wie passen filmvermittelnde Filme in die Kontexte der schulischen und der wissenschaftlichen Vermittlung hinein? Es stellt sich zusätzlich die Frage: Inwieweit können diese Filme auch eine Form von wissenschaftlichem Diskurs über Filme sein? Auf dem Weg zu unserem Termin heute kam mir der Gedanke, dass es toll wäre, wenn man später einmal seinen Studenten nicht nur eine Literaturliste, sondern eine Liste mit filmvermittelnden Filmen wird geben können. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die Filme bis dahin zugänglich sind. Das Interessante an solchen Studienmaterialien wäre, dass das Bild mitspielt und, wenn ein Film gut gemacht ist, er auch den Diskurs öffnen und unterlaufen kann. Das heißt: Man sieht Dinge im Bild, die der Diskurs nicht erwähnt, die ihn bereichern oder ihm eventuell auch widersprechen. Das ist aber auch eine Frage der Rezeption von filmvermittelnden Filmen: Konzentriert man sich stärker auf die Bilder und den Umgang mit ihnen, oder konzentriert man sich eher auf das gesprochene, deutende Wort? In gewisser Weise müsste man sogar das Sehen von filmvermittelnden Filmen lehren oder zumindest diskutieren. Ich habe das gerade in einem Seminar gemacht (anhand Bergalas Einstellungsanalyse von dem Lumièrefilm Le faux cul-de-jatte aus der Reihe Le cinéma, une histoire de plans, die ich mit David Bordwells Analyse desselben Films in »Visual Style in Cinéma« vergleichen ließ). Bei der Vorstellung seines Konzeptes der pädagogischen DVD in »Kino als Kunst« spricht Bergala ja von der »wissenden Stimme«, die im filmvermittelnden Film das Ruder übernimmt und die dem Zuschauer im Prinzip die Aktivität abnimmt. Da stellt sich die Frage, inwieweit es die Möglichkeit gibt, andere filmvermittelnde Filme zu schaffen, die dem Zuschauer eine gewisse Eigenständigkeit im Umgang mit dem bzw. in der Wahrnehmung des gezeigten Materials ermöglichen – filmvermittelnde Filme, die ohne »wissende Stimme« auskommen. Das hat ja Bergala mit seiner DVD Le point de vue, die allein auf dem Prinzip der Verknüpfung von Filmausschnitten beruht, versucht umzusetzen.

Winfried Pauleit Das Interessante ist, dass das kommentierende Wort nicht mehr die alleinige Macht hat. Inzwischen ist es so, dass Bildstrategien, etwa wie in den Filmen von Peter Tscherkassky, so stark geworden sind, dass sie die Ebene der Kommentierung oder der Dekonstruktion (oder einer wie auch immer gearteten zweiten Ebene, die mit der ersten spielt) durchaus auch übernehmen kann. Wie kann man einen Kommentar herstellen, der nicht das dominante Wort ist? Wie kann man Bilder dazu bewegen, dass sie die Qualität von Kommentaren bekommen? So dass sich da sowohl die Ebenen von Bild und Wort mischen, aber auch erste und zweite Ebene sozusagen durcheinander geraten? Das ist meines Erachtens zum Beispiel bei Peter Tscherkassky der Fall, weil man bei ihm nicht mehr klar zuordnen kann, was der Kommentar des Filmvermittlers und was der Film selbst ist.

Wobei man es bei Tscherkassky und auch einigen anderen Experimentalfilmemachern häufig mit Filmtiteln zu tun hat, die schon eine Lesart anregen, wenn nicht vorgeben: z.B. »Instructions for a Light and Sound Machine« von Tscherkassky. Ließe sich daraus ableiten, dass auch diese Filme nicht ohne das Wort auskommen?

Winfried Pauleit Absolut! Kein Film kommt ohne ein Wort aus. Selbst Vertow, der das exemplarisch versucht und ad absurdum geführt hat, hat am Anfang diese Wortzeile, dass der Film eine Kunst ohne Worte ist. Ein Film hat immer auch etwas mit Textualität und Worten zu tun!

Andererseits kommt jemand wie Tscherkassky auch von der Theorie. In seinen früheren Filmen hat er versucht, das, was er bei seiner Theorielektüre, also textuell, erfahren hat, ins filmische Bild zu übersetzen. Wenn es um filmvermittelnde Filme geht, setzte Winfried bei Tscherkassky an. Wo würdest du ansetzen, Bettina?

Bettina Henzler Mir gefallen besonders gut Harun Farockis Filme und natürlich die von Bergala, weil sie es schaffen, Text unglaublich sparsam und präzise einzusetzen. Von den Filmen, die ihr in eurer ersten Veranstaltung mit Farocki gezeigt habt, erinnere ich mich gerade an den Film zu Tee im Harem des Archimedes (Regie: Mehdi Charef, F 1985). Wie Farocki da mit ganz wenigen Worten Sachen anspricht, die man durchaus im Bild sieht, und wie diese, dadurch, dass er sie anspricht, in den Vordergrund gerückt werden – da nimmt man plötzlich das Bild anders wahr! Und das macht Farocki in manchen Filmen ganz großartig und Bergala teilweise auch. Bei Bergala ist der Text da und lenkt die Wahrnehmung des Filmmaterials; gleichzeitig lässt der Text viel Raum, sodass die Bilder an sich auch funktionieren. Das ist bei anderen filmvermittelnden Filmen nicht so sehr der Fall!

Bei Farocki und auch Hartmut Bitomsky findet man häufiger fast »mimetische« Verfahren, wo auf der sprachlichen Ebene etwas wiederholt oder nachgedichtet wird, das im Bild zu sehen ist. Die Filme produzieren aber keine Redundanz, sondern eigentlich einen Überschuss, der etwas verständlich macht.

Bettina Henzler Sie kommen ohne explizite Erklärungen aus, sie evozieren eher – das ist sehr schön! Darüber hinaus gibt es natürlich explizite filmvermittelnde Techniken, die ich bei den drei genannten Filmvermittlern (Bergala, Bitomsky, Farocki) sehe: das Prinzip des Gegenüberstellens zum Beispiel, das natürlich sehr didaktisch ist. Davon wird auch in der Kunstpädagogik ausgiebig Gebrauch gemacht. Solche Verfahren erzeugen, wie ihr ja häufiger schon gesagt habt, Einfachheit, ohne zu vereinfachen.

Reduktion ohne Komplexitätsverlust.

Bettina Henzler Das lässt Raum für Eigenes! Dem kann man selbst etwas hinzufügen. Da ist der Diskurs nicht abgeschlossen.

Winfried Pauleit Das ist natürlich ein schönes Ideal, aber da sind die Geschmäcker wiederum sehr verschieden. Ich weiß diesen Ansatz, Dinge genau zu erklären und schön gegenüber zu stellen, auf eine Art zu schätzen, insbesondere in der Universität. Das eignet sich sehr für Studierende. Gleichzeitig steckt man selbst in der Situation: Ich langweile mich schnell, wenn ich Gegenüberstellungen mache, um für die Studierenden anschaulich zu sein. Mich interessieren an der Universität mehr die Fragen, die mich selbst als Forschenden beschäftigen, die ich selbst noch nicht gänzlich durchdrungen habe. In der Seminarkonzeption habe ich es nicht mit einem fertigen Produkt zu tun, das ich dann nur noch weiterreiche. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie Bergala mit seinen eigenen Vorstellungen, mit seinem eigenen Geschmack umgeht.

Bettina Henzler Ich für meinen Teil würde sagen: Eine Gegenüberstellung von zwei Filmausschnitten, also von »Primärmaterial« kann auch sehr gut Bewegung in den Lernprozess bringen, davon ausgehend lassen sich viele Fragen formulieren. Bei den meisten filmvermittelnden Filmen ist dieser Prozess aber ja bereits abgeschlossen. Das berührt dann die Frage, wie ein »fertiger« filmvermittelnder Film, der am Ende eines Reflektionsprozesses steht, im Unterricht eingesetzt werden kann, wo eine Reflektion erst noch in Gang gesetzt werden soll: Wie sinnvoll es ist, einen Film im Seminar oder im Unterricht zu zeigen, der explizite Thesen aufstellt und diese nach und nach belegt? Als zusätzliche, also nachgeordnete Informationsquelle wäre ein solcher Film im Vermittlungskontext sicher gut zu gebrauchen. Ob er als Einstieg in die eigene Auseinandersetzung mit dem Film sinnvoll ist, bleibt aber fraglich. Dagegen bieten experimentelle Filme die Möglichkeit, einen Reflektionsprozess in Gang zu setzen, eben weil hier Deutungen der Filmemacher implizit bleiben.

Winfried Pauleit Manche Kunstpädagogen kritisieren offenere Ansätze, weil man ihnen zufolge Studierende (und Schüler) am Ende eines Forschungsweges nicht alleine lassen darf. Das ist dann auch ein Kritikpunkt an meiner Arbeit an der Universität: »Winfried, du hast die ganze Analyse gemacht, jetzt musst du auch mal einen klaren Schluss ziehen!« Das interessiert mich nicht, weil ich es im Grunde falsch finde zu sagen: »Am Ende einer langen Forschungsarbeit kommt das klare, vorher bestimmbare Ergebnis.« Die Dinge sind oft komplizierter!

Die Pädagogik muss einen Spagat zwischen zwei Utopien machen: Einerseits soll sie Faktenwissen vermitteln und damit das Objektivitätsmodell durchsetzen helfen, in dem prinzipiell alle Erscheinungen der Welt exakt beschrieben und erklärt werden können, und zwar auf Basis ewig und überall gültiger Gesetze. Andererseits geht es – zumindest vorgeblich – um Erziehung zur Mündigkeit, d.h. um eine größtmögliche Annäherung an den Kern des Einzelwesens, seine Entfaltung und Bewusstwerdung. Hier geht es um Einzigartigkeit und Individualität, hier herrschen subjektive Kategorien, soll der persönliche Geschmack ausgebildet werden. In diesem Spannungsfeld sollte eigentlich schnell klar werden, dass auch bei der Vermittlung von Wissen permanent inszeniert wird. Den Blick auf die unterschiedlichen Inszenierungen und die darin zum Ausdruck kommenden Absichten zu lenken, darin könnte der allgemeine Nutzen von Filmpädagogik liegen, weil die Frage nach den Inszenierungsverfahren zu ihren wichtigsten Untersuchungsgegenständen gehört. Film gilt als technische, als Apparate-Kunst, als Kunst der Ingenieure und stammt in diesem Sinne aus der Welt des Objektivitätsanspruchs. So erklärt sich der Ruf von Film, Wirklichkeit ungetrübt von menschlichen Eingriffen und Wahrnehmungsverzerrungen wiedergeben zu können. Eine Auseinandersetzung mit Film und seinen Verfahren wäre also besonders gut geeignet, über Debatten zur Standpunktvielfalt allgemein einzutreten. Das Genre des filmvermittelnden Films ist unter Umständen besonders gut dazu geeignet, weil es selbst mit den Mitteln der kinematischen Blicklenkung arbeitet.

Bettina Henzler Ihr meint, dass der Kinoapparat besonders geeignet ist, beides in einem zu reflektieren: die Welt und die Subjektivität im Blick auf die Welt?

Richtig, vor allem im Hinblick auf filmvermittelnde Filme, weil sich eine Pluralität der Perspektiven sozusagen unmittelbar aus der Kinotechnik ableiten lässt: Wo steht die Kamera und warum?

Winfried Pauleit Es zeigte sich ja schon, dass filmvermittelnde Filme häufig lenken und fokussieren. Ein filmvermittelnder Film müsste doch so offen und so alteritätsgeladen sein wie »nicht-filmvermittelnde Filme«, die als Kunstwerk funktionieren und nicht die Fokussierung auf ein transportierbares Wissen oder auf eine Methode aufweisen müssen. Ansonsten würde ich dem zustimmen: Bei der Geschmacksbildung geht es genau um diese Frage der Entwicklung von Individualität und Vielfältigkeit. Man sollte allerdings hinterfragen, inwiefern die Frage der Persönlichkeitsbildung selber wieder eine Ideologie begründet. So genau weiß keiner, was in diesem Prozess eigentlich passiert. Bergala versucht ja auch, seine Strategie des filmvermittelnden Films möglichst offen zu halten. Er fokussiert eben nicht, spitzt nicht linear zu, sondern durchbricht den Wissensdiskurs mit dem Medium DVD. Mit anderen Worten: Er versucht, die Strategien des offenen Kunstwerks auch auf den filmvermittelnden Film anzuwenden.

Zum Beispiel?

Winfried Pauleit Bergalas Theorie von der DVD – vor allem die DVD Le Point de vue – stellt ja das Nichtlineare heraus und das vergleichende Sehen. Dabei sagt Bergala gerade nicht: »Man MUSS das mit dem vergleichen«, sondern: »Man KANN das mit dem vergleichen, aber auch mit dem, mit dem... «. Bergala bietet hier im Grunde eine unendliche Geschichte an, bei der dann jeder einzelne Nutzer sagen kann: »Das interessiert mich jetzt am meisten, da kann ich ausloten, warum mich das beschäftigt.« An dem Punkt fängt die Persönlichkeitsbildung an.

Bettina Henzler Wobei ich finde, dass die DVD auf interessante Weise, obwohl sie fast ohne Worte auskommt, genau die Frage wieder aufwirft, die ich vorhin formuliert habe, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bild und Text, zwischen Konzept und Film. Bergala hat die DVD mit einem Begriffsraster versehen. Natürlich lässt sich auch darüber streiten, inwiefern dieses Begriffsraster sinnvoll ist. In jedem Fall ist es interessant, dass die Begriffe, die er bildet, einerseits die Rezeption der Filmausschnitte lenken und auf bestimmte Dinge fokussieren, aber die Filmausschnitte zugleich so ein starkes Eigenleben entwickeln, dass sie für sich selbst sprechen und sich sogar gegenseitig kommentieren können. Das ist ein interessanter Prozess der Filmanalyse, der aus den Filmausschnitten selbst hervorgeht. Und insofern ist die DVD zum Point de vue tatsächlich auch eine konsequente Weiterentwicklung seiner vorangegangenen filmvermittelnden Filme, weil Bergala das sprachliche Konzept auf ein Minimum reduziert, es aber trotzdem als Impuls noch anwesend sein lässt. Zugleich wird dem Betrachter in Interaktion mit den Filmausschnitten die Freiheit gelassen, das Konzept / den Begriff selbst zu füllen bzw. zu verändern.

Nur eine kleine Ergänzung, weil mich das so beeindruckt an `Le Point de vue`:film:: Es geht ja in der Begriffsbildung – zumindest an bestimmten Stellen – durchaus absichtsvoll darum, unklar zu bleiben, um das Bild seinerseits den Begriff erklären zu lassen. Das ist ja auch sehr schön gedacht, als das Gegenteil einer Einbahnstraßenstruktur.

Bettina Henzler Man kann immer auch darüber nachdenken, was Begriffe überhaupt bringen. Auf dieser DVD sind sie jedenfalls kein Endziel, sondern nur Mittel zum Zweck, ein Vehikel, das Denken in Gang setzen soll, über das man sich verständigen bzw. auseinandersetzen kann. Da sind wir wieder genau an dem Punkt: Es geht um kein Konzept, das du am Ende gelernt hast und abrufen kannst. Es geht vielmehr darum, etwas in Bewegung zu versetzen.

Ein Beispiel: »points de vue emboîtés« (»verschachtelte Standpunkte«; A.d.R.) ist gerade deshalb ein so toller Begriff, weil er kein feststehender filmanalytischer Terminus ist. Er gibt eine räumliche Vorstellung davon, wie die filmische Perspektive auf den Raum wirken kann: ein Verschachtelungsprinzip. Die Filmbeispiele in Bergalas Präsentation habe ich sehr stark räumlich wahrgenommen und dazu passte für mich auch der Begriff – also eine Form von Begriffsbildung, die bildlich funktioniert. Zu dem, was wir gerade diskutieren, passt auch der Lehrsatz von Kant: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind.« Man könnte sagen, dass Bergala Begriff und Anschauung zusammenbringt, was sowohl die Anschauung als auch die Begriffsbildung schärft – ein sich gegenseitig bedingendes System.

Winfried Pauleit Ja, aber es geht nicht darum zu sagen, dass das Bild hier die wichtigere Kategorie ist und der Begriff soll dann etwas anstoßen. Das wäre aus meiner Sicht schon wieder zu didaktisch und festlegend gedacht. Bergala befindet sich selbst in einer kulturellen Geschichte, einem Kulturkampf der Dekonstruktion, wenn man so will, der seit den 1960er Jahren geführt wird und in dem es darum geht, sprachliche Kategorien in Frage zu stellen und ins Wanken zu bringen. Das heißt, man kann nicht mehr davon ausgehen, dass die sprachliche Ebene die bildliche Ebene bestimmt. In so einer einfachen Welt leben wir nicht mehr. Jede sprachliche Kategorie ist gleichzeitig auch eine bildliche Kategorie, weil es das Wort auch als sprachliches Zeichen gibt. Umgekehrt enthält jede visuelle Konstruktion auch schon Sprachliches. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Bild und Wort als eine der gegenseitigen Einschreibungen und Bebilderungen ist schon relativ alt. Aber erst seit den letzten 50 Jahren wird das in der Wissenschaftsgeschichte wirklich verhandelt. Das ist wie eine Aufwertung der Ästhetik, weil das Verhältnis von Wort und Bild jetzt auf neue Weise bearbeitet werden kann.

Das passt gut zu unserer These über die Textproduktion bei Farocki und Bitomsky: Beide Autoren arbeiten mit Sprachbildern und bei beiden gibt es ein hohes Bewusstsein dafür, wie das Verhältnis zwischen Text und Bild eine völlig neue, nicht-didaktische Qualität erlangt. Durch die direkte Anwendung dieses Schillerns zwischen Text und Bild tut sich ein viel offenerer Raum auf, als man beim ersten Hinhören bereit ist wahrzunehmen, vielleicht, weil man sich von dieser etwas speziellen Intonierung beeindrucken lässt und denkt: »Aha, neutraler Sound heißt Objektivitätsanspruch.«

Winfried Pauleit Diese Sprachspiele sehe ich auch. Bei Godard findet man ja Ähnliches, wobei der trotzdem als größter Didaktiker der Filmgeschichte stehen bleibt, weil er uns zwar nicht mit dem Hammer auf den Kopf haut, aber doch das Bild ziemlich unter die Nase reibt, etwa wenn es in den Histoire(s) du cinéma immer wieder blinkt: »zwei oder drei«, »zwei oder drei«!

Ein starker Zeigeimpuls.

Winfried Pauleit Genau! Ein starker Zeigeimpuls, der dann natürlich auch ausschließt.

An dieser Stelle lohnt es sich, auf den Grzimekfilm »Berggorillas in Zaire« über den Zusammenhang popkultureller Mythenproduktion und Artengefährdung des Gorillas einzugehen, den du, Winfried, uns vorhin als Warm-Up für dieses Gespräch gezeigt hast. Der Film stellt zwar keine Filmanalyse zur Verfügung, aber er macht Dinge, die wir bei einer filmischen Filmanalyse loben würden: Erstens bedient er sich nicht nur bei »King Kong« (Regie: Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack, USA 1933), sondern findet noch weiteres Material, sogar einen zweiten Film namens »Konga« (UK/USA 1961, Regie: John Lemont). Zweitens arbeitet er eben gelegentlich mit interessanten Verknüpfungen von Bild- und Sprachebene: Einmal sehen wir, wie der Riesenaffe durch ein mehrstöckiges Haus einfach hindurchläuft.

Konga1 Konga2
KingKong1 KingKong2

Später, bei der Kampfszene zwischen Riesenaffen und Dinosaurier aus »King Kong«, spricht Bernhard Grzimek dann von einem »haushohen Affen«. Da hat Grzimek etwas intuitiv begriffen, was wir als Verfahren sehr effizient finden: Text und Bild fallen gerade nicht zusammen, spießen nicht definitorisch auf; das Auseinanderziehen auf der Zeitachse – sozusagen eine »Distanzmontage« zwischen Wort und Bild – öffnet nicht nur den interpretatorischen Raum, es trägt auch zu einer Art von innerer Statik der Argumentation bei – Verbindungen werden nicht ausbuchstabiert und trotzdem senkt sich ein Eindruck von Bezug in das rezipierende Bewusstsein. Aber zurück zu eurem Arbeitsfeld und zum filmvermittelnden Film: Im Zuge des Medienwandels wäre es doch denkbar, dass Studierende statt einer schriftlichen Hausarbeit eine Kommentierung mit laufenden Bildern herstellen. Die Aufgabenstellung würde dann lauten: Macht einen filmvermittelnden Film.

Bettina Henzler Da tut sich noch eine weitere Ebene auf. Man kann sagen: Filmvermittelnde Filme sind an sich schon interessant, weil sie eine Filmanalyse liefern. Sie sind auch interessant, weil sie unterschiedliche Verfahren der Filmvermittlung anschaulich machen können. Es gibt vielleicht einen wissenschaftlichen Anspruch, je nach dem, wie komplex der filmvermittelnde Film ist. Es gibt ganz sicher den Bezug zu einer journalistischen Praxis, zu deren Informations- und Ankündigungsfunktion. Aber vor allem gibt es auch einen Bezug zur Filmpraxis, beispielsweise zur Praxis des Schneidens, der Bildauswahl usw. Damit bietet sich dann auch eine ganz interessante Möglichkeit, Filmanalyse bzw. Wissenschaft und Filmpraxis zu verbinden. An der Uni Bremen wird ja Theorie und Praxis gelehrt. Insofern wäre es interessant, zu »interdisziplinären Hausarbeiten«, zu filmischen Filmanalysen anzuregen!

Winfried Pauleit Ich biete das in meinen Veranstaltungen grundsätzlich an, und es gibt da auch schon verschiedene vorzeigbare Arbeiten, die wir u.a. im Rahmen des Filmsymposiums gemacht haben, beispielsweise die Arbeiten an den Trailern: Die Trailer, die die Studenten für das Filmsymposium geschnitten haben, werden in einer schriftlichen Ausarbeitung reflektiert und insofern wissenschaftlich abgesichert. Gerade weil wir diesen Praxisbereich, also das eigene Kunstschaffen, bewusst fördern, kommt es uns auch nicht zwangsläufig darauf an, immer und sofort ins Wissenschaftliche überzugehen. Ein anderes Beispiel wären Audio-Podcasts, in denen die Studierenden ein Thema nur mit der Audiospur bearbeiten. Dabei kommen im Grunde schon dieselben Prinzipien auf – Montage und Schnitt –, Originalmaterial wird eingearbeitet und kommentiert. Nur ist das natürlich immer verdammt viel Arbeit; daran scheitert es dann oft. Was ich mir eigentlich von euch wünschen würde, wäre so eine kleine Sammlung von filmvermittelnden Filmen, die man den Studierenden wie einen Reader in die Hand drücken kann.

Eine Art »Best-of« für den Handapparat! Was wäre denn deine Anforderung an so einen virtuellen Handapparat?

Winfried Pauleit Ich würde einfach nur eine gute Auswahl machen à la Bergala. Eine Sammlung von zehn Beispielen wäre für mich schon vollkommen ausreichend. Ich könnte den Studierenden dann sagen: »Guckt euch mal diese DVD an!« Was die Studierenden oft machen ist, dass sie die DVDs Filme sehen lernen von Rüdiger Steinmetz in die Hand nehmen und da ist gleich wieder dieser Off-Kommentar drauf, der einem alles erklärt. Das ist eine didaktische Verengung, die alles festklopft! Eine Linearisierung des Diskurses – die würde ich gerne vermeiden!

Filmvermittelnde Filme wären auch eine schöne Ergänzung zur Lektüre des Bergala-Buchs »Kino als Kunst«, das ihr in deutscher Sprache herausgegeben habt. Wahrscheinlich sind viele Studierende weder mit den Filmbeispielen noch mit den Methoden der Vermittlung, die Bergala vorschlägt, vertraut. Dies ließe sich anhand der filmvermittelnden Filme von Bergala, aber auch von anderen Autoren, sehr schön aufarbeiten.

Bettina Henzler Wobei sich Bergalas Videofilm-Reihe Le cinéma, une histoire de plans gut eignet: Die Einstellungsanalysen funktionieren sehr gut auch ohne vorherige Kenntnis der Filme. Das ist nicht unbedingt bei jedem filmvermittelnden Film der Fall und dann können eben auch Probleme beim Einsatz im Seminar auftreten. Die Gefahr, die ich sehe, liegt darin, dass auf einer Metametameta-Ebene operiert wird, die dann – ganz im Gegenteil zur direkten Anschauung des Materials – gar nicht mehr anschaulich ist. Daher fand ich zum Beispiel euren Ansatz für das Filmsymposium schön, ausschließlich filmvermittelnde Filme zu ein und demselben Film, Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931), zu zeigen. Konsequenterweise hätten wir den Referenzfilm allerdings dann auch vorführen müssen, denke ich.

Die Frage wäre: Wann? Davor oder danach?

Winfried Pauleit Das ist im Grunde egal. Meine Erfahrung in Theorieseminaren ist folgende: wenn man Texte – etwa von Bazin – liest, sind die Filme, die besprochen werden, nicht bekannt. Was sehr gut funktioniert von der Anschauung her, ist, wenn man dann einfach die betreffenden Filmausschnitte raussucht und zeigt. Und selbst wenn man nur zwei oder drei von zehn genannten zeigt, funktioniert das Verständnis des Theoriezusammenhangs. Davon ausgehend haben wir für die Symposiums-Publikationen auch die Idee des »E-books« entwickelt, das Filmausschnitte enthält.

Da sind wir doch im Kern unserer Frage: Braucht man nicht für die analytische Beschäftigung mit Film das Bewegtbild? Selbst wenn man etwas ausführlich beschreibt, ist es nicht immer von Vorteil, die Beschreibung am bewegten Bild überprüfen zu können? Das scheint uns die Qualität von filmvermittelnden Filmen zu sein, dass hier Text und Bild zusammenkommen.

Winfried Pauleit Ich stimme vollkommen zu, mit einer entscheidenden Einschränkung: Genau die Frage der Überprüfung und Kontrolle ist ja das Paradigma, mit dem wir es zu tun haben, seitdem es VHS gibt. Seitdem können wir alles überprüfen und kontrollieren. Eine meiner Thesen dazu lautet, dass sich filmwissenschaftliche Analysen anders lesen, seit es Videorecorder gibt, weil sie in einem Kontrollparadigma entstehen. Da hat sich eine neue Generation von Cinéphilen oder von Videophilen und Internet-Usern herausgebildet. Hier sprechen wir wieder über dasselbe Problem, das wir vorhin schon diskutierten: Die Ideologie geht davon aus, dass das Bild immer Recht hat, weil man es jetzt kontrollieren kann. So könnte man jetzt auch fragen: Soll die Kamera entscheiden, ob der Ball im Tor war, oder soll der Schiedsrichter entscheiden? Dieser Wahn, dem Bild eine höhere Glaubwürdigkeit zuzugestehen, und die ganze Geschichte der wörtlichen Rechtsprechung umzukehren und sie jetzt dem Bild aufzuladen, der begegnet einem da.

»Überprüfen« meint eher Mitlesen oder Mitvollziehen als »Nachprüfen« oder »Fehler nachweisen«.

Bettina Henzler Es geht um eine angepasste Form des Zitierens – so, wie man Texte hineinnimmt in eine schriftliche Abhandlung, indem man sie ausschnittweise zitiert und dadurch auch Raum für ein anderes Sprechen gibt.

Genau so ist das bei filmvermittelnden Filmen: Sie zeigen auch nicht den ganzen Film, sondern zitieren Blöcke aus den Filmen.

Winfried Pauleit Aber das hat dann eine Rückwirkung auf die Textualität: dass man bestimmte Dinge im Text nicht sagt, den Text elliptischer anlegt usw. Das ist ja das Besondere am Film im Kino, aber auch an dieser ganzen imaginativen Konstruktion, dass das Bild am Cache nicht zuende ist, dass es weitergeht und imaginäre Anteile enthält. Das Off! Wir wissen über die Anordnung im Kino und den Raum, dass sich Film nicht auf das objektiv Fixierbare beschränkt.

Eine allgemeine Frage zum Abschluss: Wie schätzt ihr die gegenwärtige Situation der Filmvermittlung in Deutschland ein? In welche Richtung soll sie sich entwickeln?

Bettina Henzler Auf welcher Ebene setzt man denn an? Setzt man bei dem an, was publiziert wird, bei dem, was in den Schulen praktiziert wird, bei dem, was in den nicht-schulischen Projekten praktiziert wird? Bei den Ansätzen, die da sind, bei den Ansätzen, in die Geld reingesteckt wird? Das sind ja sehr unterschiedliche Richtungen.

Konkreter formuliert: Mit welchem Ethos tretet ihr an? Ihr schafft in Bremen institutionell die Rahmenbedingungen, die vielleicht etwas für die Filmvermittlung in ganz Deutschland ermöglichen könnten.

Bettina Henzler Ein erster Ansatzpunkt ist, dass wir versuchen, die Filmvermittlung von der Filmwissenschaft her zu denken. Das ist etwas, was in Deutschland nicht so verbreitet ist – außer vielleicht in den 70er Jahren, in der Zeit, bevor die Medienwissenschaften und die Medienpädagogik aufkamen. Es gibt in Deutschland eine starke Kluft zwischen der Filmwissenschaft einerseits und der Pädagogik andererseits. Beide Bereiche beziehen sich sehr wenig aufeinander und das tut – aus meiner Sicht – beiden Bereichen nicht gut. Wir versuchen, das zusammenzuführen, also einerseits die Filmwissenschaft stärker in Richtung Vermittlung zu denken, sodass sie kein abgeschlossener Bereich ist, der nur einen bestimmten Zirkel von Gleichartigen, Gleichgesinnten betrifft, und etwas werden kann, das sich öffnet hin zu einem größeren Publikum, hin zur Schule, hin zu anderen Institutionen. Dafür bietet sich Film auch deshalb an, weil das Kino-Dispositiv von nicht-universitären Institutionen abhängt. Wir in Bremen gehen zum Beispiel eine Kooperation mit dem Kino 46 ein. Andererseits sollte die Film-Pädagogik nicht allein auf das Lehrplan-Relevante reduziert werden, also auf Fragen, wie man Film und Filmanalyse durchdidaktisieren und objektiv abfragen kann. Es sollte auch nicht ausschließlich der Kontext des Subjekts, des Kindes bzw. des Jugendlichen, in den Fokus genommen werden. Das ist zwar sehr wichtig, aber eben nicht der einzige »Mitspieler« im Prozess der Filmvermittlung. Ich glaube dass man von einer Dreiecksbeziehung zwischen Kind bzw. Jugendlichem, Pädagogen und Film ausgehen sollte, in der jeder in Wechselwirkung mit dem/den Anderen tritt. Pädagogik und Filmwissenschaft sollen (institutionell) zusammenkommen und dieses Zusammenkommen soll sich dann auch in der Reflexion und Methodik niederschlagen.

Winfried Pauleit Von der Filmwissenschaft ausgehend, versuche ich, einen breiten Vermittlungsbegriff zu etablieren. Für mich ist dieser Vermittlungsbegriff auf drei Ebenen angelegt. Die erste Ebene wäre die »klassische Vermittlungssituation«: So wie es den Museumspädagogen gibt, kann es auch den Filmpädagogen geben. Das heißt, man arbeitet mit dem Film im Hinblick auf eine spezifische Zielgruppe und folgt dabei einem entweder wissensorientierten oder prozessorientierten oder cinéphilieorientierten Ansatz. Die zweite Ebene der »Vermittlung« wäre die Ebene des Filmeprogrammierens, -kuratierens und -präsentierens, im engeren Sinne natürlich die Kinoarbeit, die Filmmuseums- oder Institutionsarbeit. Dazu gehört im Grunde auch das Fernsehen, denn auch Fernsehen präsentiert Film. Es ist auch eine Arbeit im Netz und betrifft genauso das Schreiben von Filmbüchern: Wenn ich ein Filmbuch konzipiere, dann mache ich Vermittlungsarbeit, dann präsentiere ich Film. Auch wenn ich ein wissenschaftliches Buch schreiben will, bin ich immer mit diesem Anteil der Vermittlung konfrontiert. Die dritte Ebene betrifft den Film selbst. Film vermittelt selbst etwas. Er macht Wissen und Anschauung zugänglich. Film ist ein spezifisches Archiv neben Objekt- und Textsammlungen. Er fungiert dabei wie eine Art Zeitmaschine, die uns Vergangenes noch einmal zur Anschauung und zu Gehör bringt. Insofern lässt sich Filmvermittlung nicht auf Didaktik reduzieren. Sie ist vielmehr Teil jeder Filmforschung, die sich mit Filmerfahrung auseinandersetzt. Diese drei Ebenen zu reflektieren und in der Vermittlung aufeinander zu beziehen – in der Universität und in anderen Institutionen –, das wäre mein Ansatz.

Filmografie

Le cinéma, une histoire de plans
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