Filmvermittlung und Filmpädagogik
»Vivre sa vie« (»Die Geschichte der Nana S.«) – ein Film von Jean-Luc Godard (F 1962)
Dialogtext aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«
Gesprochen von Bulle Ogier und Michael Lonsdale
Michael Lonsdale Du glaubst also wirklich, dass man der Einstellung eines Films ansehen kann, ob der Filmemacher die Frau liebt, die er filmt?
Bulle Ogier Da bin ich mir sicher. Vielleicht sieht man es da sogar am deutlichsten. Sicher nicht im ganzen Film, selbst wenn es zu diesem Zeitpunkt gut zwischen den beiden läuft, das ist nicht die Frage. Was man in einer Einstellung sieht ist, ob der Filmemacher die Frau für die Dauer dieser Einstellung liebt. Liebe, Begierde, Hass, das sind Sachen, die die Kamera ohne jede Schummelei einfängt. Einzig aus der Tatsache heraus, dass sie aufnimmt. So etwas ist kein gewöhnlicher Augenblick; du weißt das genauso gut wie ich. In diesem Moment ist alles intensiver und sichtbarer als sonst. Das ist gefährlich, denn man kann da nicht mogeln. Ein Filmemacher kann nicht vorgeben zu lieben oder seine Schauspielerin zu begehren, wenn es nicht so ist. Die Filmrolle zeichnet gleichzeitig die Lüge und die Wahrheit auf.
Michael Lonsdale Wir sind Schauspieler. Unser Beruf besteht doch daraus, Gefühle vorzuspielen, die wir gar nicht haben.
Bulle Ogier Ich bin einverstanden, dass ein Schauspieler im Kino diese Gefühle mindestens für die Zeit des Drehs darstellen muss, es gibt ja auch eine Aufrichtigkeit in der Lüge. Aber hier passiert genau das Gegenteil. Die Grazie von Anna Karina in dieser Einstellung verdankt sich nicht nur ihrer objektiven Schönheit. Es ist ihr Bewusstsein und das Selbstvertrauen, das daraus entsteht, unter den Augen des Mannes zu spielen, den sie liebt.
Michael Lonsdale Ja, aber gleichzeitig ist diese Einstellung wie ein Käfig, wo der Mann, den sie liebt, wie du sagst, sie einsperrt. Das Bild bleibt ganz und gar kühl. Sie ist gefangen, sie kann nicht ausweichen. Und noch dazu ist da dieser Mann, der außerhalb des Bildes um sie herumschleicht, als würde er sie überwachen. Findest du nicht, dass das eine merkwürdige Liebe ist? Wenn der Filmemacher die Frau in einem solchen Bild einsperrt? Einen Lichtstrahl auf sie richtet wie im Gefängnis? Und hast du die Postkarte gesehen? Das ist Elisabeth Taylor, glaube ich, na ja egal. Es ist wie ein aufgespießter Schmetterling, ein totes Bild. Mein Eindruck ist, dass der Filmemacher noch einen zweiten Schmetterling gefangen hat, einen lebendigen. Diese junge Frau, die in dem Bild feststeckt, in dem sie herumflattert und in dem sie ein letztes mal mit den Flügeln schlägt.
Bullo Ogier: Jedenfalls ist die Wahl von Annas Kostüm sehr schön. Es ist das gleiche schwarz-weiße Domino-Kleid wie bei der Frau auf der Postkarte. Wenn es ein Schmetterlingssammler ist, wie du sagst, dann ein ziemlich monomanischer. Er sammelt nur eine ganz bestimmte Spezies mit schwarz-weißen Flügeln. Mir gelingt es aber nicht, die Einstellung so wie du zu sehen. Du lässt dich zu sehr von dem Text von Poe beeinflussen, den der Mann in der Szene liest.
Michael Lonsdale Aber Godard hat diesen Text ja ausgewählt, »Das ovale Portrait«, das erfinde ich ja nicht. Ein Mann, der aus einer Frau ein Bild macht, in dem das Leben selbst eingefangen wird, der zugleich aber diese Frau tötet, deren Porträt er zeichnet.
Bulle Ogier Was glaubst du, was das für Godard bedeutet? In der Liebe tötet man das, was man liebt? Oder dass die Kunst gefährlich ist für die Liebe, weil man immer ein bisschen diejenigen tötet, die man filmt?
Michael Lonsdale Beides, glaube ich. Besonders weil er auf zwei Arten in dieser Einstellung ist. Gleichzeitig drinnen und draußen. Er ist derjenige, der die Falle konstruiert hat, der die Kadrierung auswählt und dieses zu starke, etwas inquisitorische Licht einrichtet. Und gleichzeitig – auch wenn er nicht selbst spielt – ist die Stimme des Schauspielers doch die seine. Und die Falle verdankt sich auf zweierlei Weise ihrem Mann, einmal dem Filmemacher und seinem Blick, der sie einfängt und der sie einschließt und zum anderen dieser Stimme, der sie nicht entfliehen kann und die über den Tod spricht, während die Kamera läuft.
Bulle Ogier Schon zweimal hast du gesagt, dass das Licht zu grell ist. Ich sehe aber gar nichts Grausames darin. Im Gegenteil. Es ist wundervoll, dieses Schwarz und Weiß. Das Gesicht von Anna Karina erinnert an die Stars der Stummfilmzeit. Zugleich ist sie aber auch ein ganz moderner, uns geläufiger Star, der keine komplizierte Beleuchtung braucht. Lediglich dieses weiße Licht, um ihre Augen zu akzentuieren, ihren Mund. Um in ganz klarer Weise die Linie zu betonen, die ihr Gesicht von den Haaren abtrennt.
Michael Lonsdale Vor allem, weil sie gar keine braunen Haare hatte. Weder im wirklichen Leben, noch in den anderen Filmen Godards. Erinnerst du dich an Le mépris, da macht er das Gleiche mit Brigitte Bardot. Sie musste eine schwarze Kurzhaarperücke aufsetzen wie hier. Aber hier merkt man doch, dass er sie an das Bild seiner Begierde angleicht.
Bulle Ogier Ganz ehrlich, ich schaffe es nicht in dieser Einstellung so wie du eine Art von Sadismus zu sehen. Na gut, sie kann nicht aus dem Bild ausbrechen. Aber zum Beispiel gibt es diesen kleinen Toilettenspiegel am Schrank, der auf der rechten Bildseite zu sehen ist, der öffnet die ganze Komposition. Und vor allem agiert sie doch so ruhig in diesem Bild, sie ist sehr lebendig und keineswegs so stillgestellt wie du sagst. Sie dreht sich in alle Richtungen, und in einem Moment dreht sie der Kamera fast den Rücken zu. In ihren Gesten macht sie einen überaus freien Eindruck. Das ist der Traum aller Schauspielerinnen, in einer Einstellung derart frei zu spielen, so klar und so präzise. Was mich aber am meisten berührt ist, dass es gar kein Schauspiel mehr ist. Die Figur geht vollkommen in der Person der Schauspielerin auf. Es ist die junge Frau Anna Karina, die sich eine Zigarette anzündet, die sich Lippenstift aufträgt, die einen langen Moment still und nachdenklich bleibt. Es sind ihre Gesten. Es ist ihr Charme im wahren Leben. Und das Kino hat es erlaubt, das einzufangen. Man kann es sich immer wieder ansehen, es bleibt lebendig. Während es viele Kinoszenen gibt, die im Laufe der Jahre altern, weil der Filmemacher nur daran gedacht hat, eine Geschichte zu erzählen und verpasst hat, die Gegenwart einzufangen.
Michael Lonsdale Was mich an dem berührt, was du sagst, ist, dass man das alles auch über dich sagen könnte, in dem Film La Salamandre von Alain Tanner oder in L’amour fou von Rivette.
Bullo Ogier: Aber das ist doch nicht das Gleiche. Das was Anna in dieser Einstellung gibt, das schenkt sie dem Mann, mit dem sie das Leben teilt, den sie liebt, der sie gerade filmt und der diesen Film für sie macht. Es ist ein viel persönlicheres Geschenk als gemeinhin beim Schauspielern.
Michael Lonsdale Du weißt genau, dass das zum Kino dazugehört. Du gibst nichts, du löst nichts aus, wenn du nichts anderes machst als nur zu schauspielern. Es ist immer auch ein bisschen von dir selbst, was du der Kamera gibst. Ob du es willst oder nicht. Denn in jedem Fall stiehlt die Kamera es von dir.
Bulle Ogier Eben drum. Hier ist es doch nicht die Kamera, die es von ihr verlangt. Das sieht man in jeder Sekunde. Sie gibt sich voll und ganz dem Mann hin, den sie liebt. Weil es nun mal der Mann hinter der Kamera ist.
Michael Lonsdale Du glaubst wirklich, dass dieses Spiel hier gleichberechtigt in beide Richtungen verläuft? Die Großzügigkeit des Gebens und Nehmens zwischen diesem Mann und dieser Frau.
Bulle Ogier Es ist zwangsläufig nicht gleichberechtigt, denn er hat ja die Macht, sie in Szene zu setzen. Aber ich bin sicher, dass die Liebe auf beiden Seiten liegt. Ansonsten hätte sie nicht diese Anmut. Man kann so eine Anmut nicht erzwingen.
Michael Lonsdale Du hast mich fast überzeugt. Du klingst so überzeugt.
Bulle Ogier Für mich ist einer der schönsten Momente an dieser Einstellung, wie die Frau im Dunkeln verschwindet.
Michael Lonsdale Da bin ich ganz und gar einverstanden. Das vermittelt ein ganz eigenes Gefühl, wenn diese Abblende kommt. Sie drückt zugleicn das Verschwinden des Bildes aus und den Tod des Modells unter den Augen des Malers.
Bulle Ogier Ich würde nicht sagen den Tod. Es ist das Herzklopfen. Es hört vor unseren Augen auf.
Michael Lonsdale Das Überwältigende ist, dass sie beim Verschwinden im Dunkel ganz unbeweglich ist, sie macht einen resignierten Eindruck, als sie unsichtbar wird. Und im letzten Moment, wenn das Gesicht im Dunkeln verschwindet, gibt es einen letzten Ruck, sie dreht sich energisch um, als wolle sie sich nicht von der Nacht des Bildes verschlucken lassen.
Bulle Ogier Das ist das Wunderbare am Kino. Diese kleinen, fast winzigen Emotionen.