Cinéphilie: André S. Labarthe
Historie
Gespräch mit Bernard Eisenschitz, 15. Juni 2008, Teil 2
Wie sieht Ihr persönlicher Werdegang aus?
Eisenschitz: Ich habe eine cinéphile Ausbildung, kein Universitätsstudium als Historiker. Meine historischen Kenntnisse sind schlicht das Ergebnis meiner Neugier und stammen aus den praktischen Arbeiten, die sich daraus ergaben. Langlois hatte mich seinerzeit gebeten, mich um Georges Sadouls Nachlass zu kümmern und die Bücher fertig zu stellen, die Sadoul nicht beendet hatte: eine editorische Arbeit. Ich habe das dann gemacht, was zugleich eine sehr interessante Ausbildung war. Sadoul selbst hatte ja auch keine Ausbildung als Historiker. Genau deshalb war das interessant. Da wurden vor allem meine Fähigkeiten als Kritiker geschult, es ging darum herauszufinden, was bei Sadoul als Amateur-Historiker funktionierte und was nicht. Diesen Amateur-Aspekt habe ich sehr geschätzt. In dieser Zeit wurde Sadoul aus politischen Gründen sehr heftig von Jacques Deslandes kritisiert, dabei spielten aus der Perspektive des ausgebildeten Historikers auch methodische Gründe eine Rolle. Das interessierte mich, und außerdem bot es die Gelegenheit, zu den filmhistorischen Quellen zu gehen. Insbesondere war ich in Deutschland, wo ich über die deutschen Genossenschaftszeitungen (journaux corporatifs) arbeitete. Sadoul kam aus Lothringen und war daher ziemlich anti-deutsch eingestellt. Er hatte bereits alle Kapitel (seiner »Histoire générale du cinéma«) fertiggestellt, lediglich das über das deutsche Kino musste noch komplett geschrieben werden. Ich habe mir die Dokumente in West- und Ostberlin angesehen, um jeweils beide Quellen gegenüberstellen zu können. Mit Lotte Eisners Hilfe habe ich auch Leute treffen können, die damals noch lebten. Mein Interesse lag darin, die Quellen einerseits sich relativieren zu lassen und sie zuallererst miteinander zu konfrontieren. Die ersten Filmhistoriker waren Zeitzeugen und Journalisten, und Sadoul war vor allem anderen Journalist. Er hatte ein cinéphiles Gedächtnis, aber er hatte auch Dinge aktiv begleitet. Renoir kannte er gut, er verfolgte das französische Kino, zur Zeit der Volksfront traf er wichtige Akteure. Auch noch im Kalten Krieg setzte sich das fort, wenn auch meist eher aufgrund seiner politischen Aktivitäten. Deshalb sah er auch die Filme einiger Regisseure als erster, er war sehr neugierig. Aber diese Leute waren Zuschauer, so wie auf der politisch anderen Seite Maurice Bardèche und Robert Brasillach, die ebenfalls eine Filmgeschichte geschrieben haben (»Histoire du cinéma«; 1935); wie auch Jean Mitry, auch wenn Mitry vorgab, methodisch gewissenhafter zu arbeiten. Wahrscheinlich hatte Mitry tatsächlich eine seriösere Methodologie, aber gleichzeitig vertraute er auf absolutere Weise seiner Erinnerung als Zuschauer. Und die Erinnerung des Zuschauers ist immer, wirklich immer falsch. Das ist eine Regel, eine Regel, über die man übrigens froh sein sollte, denn auf diese Weise kann die Erinnerung dabei helfen, einen Film zu verstehen, selbst wenn sie verfälscht. Durch die Erinnerung kann man Dinge beweisen, die auf keinem anderen Weg nachzuweisen wären. Ein Beispiel, das mit Fritz Lang zu tun hat: Mein Gedächtnis als Zuschauer erinnerte sich an ein Bild in einem Lang-Film, das ich definitiv auf der Leinwand gesehen hatte, jetzt aber nicht wiederfand, weder am Schneidetisch, noch auf Video oder DVD. Offenbar war das ein Bild, das von den Technikern, die das Master gemacht hatten, herausgenommen worden war. Und dann sehe ich in einem anderen Film Langs zwar nicht dasselbe Bild, aber einen vergleichbaren Effekt. Das geschieht eher beiläufig, beim Sichten des Films auf DVD; plötzlich ist da ein Licht-Blitzer. Ich schaue mir das in Zeitlupe an und stelle fest, dass da tatsächlich ein Trickeffekt ist, der in der Montage hergestellt wurde; ein Effekt, den Lang so wollte. Dann schaue ich mir die entsprechenden Dokumente an und finde eine geschriebene Anweisung, »Cut three frames«, die Lang während des Drehs notiert hat, nicht bei der Montage. Man muss dazu wissen, dass die Montage in den USA im Projektionsraum stattfindet und der Regisseur im Allgemeinen nicht bei der eigentlichen Montage dabei war. Lang ebenfalls nicht – die Montage-Notizen, die wir von Lang haben, hat er während der Projektion diktiert. Davon gibt es zahlreiche, aber keine davon entspricht »meinem Fund«. Was ich damit sagen will: Ich habe im Film zwar etwas gesehen, aber ohne diese andere Erinnerung hätte ich Langs Notiz nicht finden können. Oder besser gesagt: Selbst wenn ich sie gefunden hätte, hätte ich ihr keinerlei Wert beigemessen. Man brauchte hier zugleich das Drehbuch, die Sichtung des Films, das Zeugnis dessen, der den Film geschnitten hat und den Film selbst. Eine solche Konfrontation unterschiedlicher Quellen ist absolut notwendig. Vor meinem Film über Moonfleet gab es noch einen anderen, ein Gemeinschaftsauftrag vom Ciné-Club des 3. Programms und der »Bibliothèque du Film«, die ihre Sammlung mit Dokumenten zur Geltung bringen wollte. Der Traum der BiFi war, dass man die Skizzen Langs sieht und dass sich diese Skizzen durch digitale Effekte und Morphing in die Einstellungen des Films verwandeln. Ich habe ihnen erklärt, dass so etwas nicht funktionieren würde und sich die Dinge im Allgemeinen nicht so exakt entsprechen oder nur höchst selten. Normalerweise gibt es immer Abweichungen. Im Fall der berühmten Einstellung, in der John Mahune aufwacht und von Banditen umringt ist, ist Langs Skizze sehr präzise, aber die Männer sind nicht in der gleichen Reihenfolge aufgestellt. Schon da funktioniert das nicht mit dem Morphing. Das ist ja auch gut so!
Wenn man die unterschiedlichen Kameraeinstellungen sieht, die Lang in seine Drehbücher einzeichnete, merkt man, dass die Montage enorm vereinfacht. Er dreht zwar die verschiedenen Einstellungen, aber beim Entwurf der Einstellungen hat er bereits eine sehr klare Vorstellung. Es hängt dann vom Spiel der Schauspieler ab, und das ist unwägbar. Man kann das Spiel der Schauspieler im Drehbuch nicht voraussehen. Man behauptet oft, dass ein Drehbuch für einen bestimmten Schauspieler geschrieben sei, im Falle Marlene Dietrichs zum Beispiel. Das gehört auch zu den Dingen, die man über Lang sagte: Es gebe bei ihm keine Spontaneität... Vielleicht stimmt das zum Teil, aber meine Arbeit besteht darin, die Spontaneität zu zeigen, zu zeigen, was er dennoch aus diesen Dingen machen kann. Bill Krohn hat ein ganzes Buch über Hitchcock geschrieben, in dem er nachzuweisen versucht, dass Hitchcock nicht der perfekte Konzept-Regisseur ist, als der er gemeinhin gilt. Für ihn ist Hitchcock eher wie Rossellini. Er kommt an einem Punkt an, ist erstaunt darüber, improvisiert und so weiter. Man muss dazu eine Theorie entwickeln, und Krohns gesamtes Buch dient dem Beleg dieser Theorie, was manchmal zu sehr spannenden Erkenntnissen führt.
Zu Moonfleet kennen wir außer Ihrer Arbeit auch die beiden Beiträge Alain Bergalas: L’epreuve du souterrain und die Einstellungsanalyse in Le cinéma, une histoire de plans.
Ich finde Bergalas Film über Moonfleet sehr gelungen. Ich hätte das zwar sicher anders angestellt, aber das ist vielleicht auch eine Beschränkung meinerseits. Jeder funktioniert nach seiner Art.
Was halten Sie von der DVD als Medium?
Als die DVD aufkam, habe ich zunächst nicht die Notwendigkeit gesehen, Bonusmaterial beizufügen; mir gefiel das nicht. Das war wohl meine Prägung durch Langlois, dieser Purismus: Man stellt die Filme nicht vor und man diskutiert nicht drüber. Man schaut sie an und versteht sie mittels Empathie. Insofern war ich zu Beginn nicht besonders überzeugt davon, vor allem von dem Modus, in dem das jetzt auch wieder viel geschieht: Jemand redet über den Film und stellt ihn vor. Auch die Idee des Audiokommentars hat mich sehr gestört, dieses permanente Reden. Einmal habe ich das gemacht, gemeinsam mit Hans-Michael Bock, dem Herausgeber von CineGraph, das war über Anna Boleyn und Die Austernprinzessin von Lubitsch. (hier Link einfügen zur Ernst Lubitsch Collection : Transit Classics, Ernst Lubitsch-Collection in der DVD-Ausgabe der Murnau-Stiftung) Aber das bleibt immer etwas oberflächlich.
Wie lange arbeiten Sie an Ihren Analysen? Wie lange dauert die Vorbereitung, wie lange der Schnitt?
Bei Monsieur Verdoux hatten wir 15 Tage im Schneideraum für eine Analyse von 26 Minuten Länge. Und als einer unserer Koproduzenten eine Änderung verlangt hat, bekamen wir eine weitere Woche. Das heißt: 3 Wochen für 26 Minuten! Auch bei den beiden Arbeiten für Bergala und das CNDP hatten wir 2 Wochen, und wenn Bergala kleine Änderungsvorschläge hatte – im Allgemeinen hat er sehr interessante Dinge vorgeschlagen – kam noch eine Woche hinzu. Wenn also keine Dreharbeiten nötig sind, läuft es auf 2 Wochen hinaus. Für unseren Bonus zu Monsieur Verdoux gab es einen Dreh mit Claude Chabrol, weil das Prinzip der Reihe Chaplin d’aujourd’hui darin besteht, dass jeder Film von einem bekannten Filmemacher eingeführt wird. Toubiana hatte mich gebeten, das zu übernehmen. Natürlich hätte ich für Monsieur Verdoux am liebsten Straub gefragt, aber es ist klar, dass sowohl Toubiana als auch MK2 die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätten: »Was? Niemals! Das wäre eine Katastrophe!« Monsieur Verdoux ist kommerziell so unergiebig, dass er in Deutschland nicht in die Chaplin-Reihe von MK2 aufgenommen wurde. Die Gesamtausgabe enthält weder diesen Film noch Woman of Paris – komisch, oder? Zum Glück hat Toubiana dann die sehr gute Idee mit Chabrol gehabt. Das gefiel mir auch deshalb, weil Monsieur Verdoux sich so eng mit der französischen Cinéphilie verbindet. Das war einer der Fälle, wo die europäische Cinéphilie der Rezeption des Films in den USA vorausging – für mich ein sehr wichtiger Punkt in der Filmgeschichte. Daney hat das sehr gut formuliert, wir waren da einer Meinung und redeten häufig darüber: Das amerikanische Kino wurde sozusagen von den Europäern erfunden, oder vielleicht noch genauer von den Franzosen. Man sieht das sehr gut, wenn man die filmvermittelnden europäischen Sendungen und Produktionen, von denen Sie sprechen, mit Scorsese Geschichte des amerikanischen Kinos vergleicht. Man sieht, dass das zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Selbst wenn die Amerikaner die Franzosen in Sachen Geschmack eingeholt haben, bleibt die Herangehensweise eine völlig andere. Scorsese nimmt nun all die Filme in seinen Kanon auf, die von den Amerikanern der vorhergehenden Generation verachtet wurden. Dank ihm und Leuten wie Bogdanovich gibt es da einen Bruch. Aber dennoch bleibt der Ansatz ein anderer. Um Daneys Gedanken beinahe wörtlich zusammenzufassen: Die Franzosen bewunderten diese Filme gegen das amerikanische System, während die gleichen Filme für die Amerikaner gerade die Großartigkeit dieses Systems bewiesen. Zwar erkannten auch die Franzosen, dass eine Größe des Systems darin bestand, dass bestimmte »Antikörper« toleriert wurden. Aber wenn jemand wie Hitchcock oder Hawks dort funktionierten, dann letztlich eher als Ausnahmen innerhalb dieses Zusammenhangs, die Dinge zeigten, die das System lieber versteckt hätte. Scorseses Sendungen haben mich wirklich wütend gemacht: Nicht so sehr das, was er über das amerikanische Kino erzählte – gut, man weiß, dass er alles in allem die Unterschiede zwischen Joseph H. Lewis und Nicholas Ray nicht erkennt, oder die zwischen Michael Curtiz, Walsh und Lang. Da gibt es ein wirkliches filmkritisches Problem. Aber zugleich ist er natürlich ein Zeuge seiner eigenen Form von Cinéphilie, das ist gut zu erkennen. Aber was mir wirklich skandalös erschien war, was er über das italienische Kino gemacht hat.
Eine wirkliche Ausnahme unter den Amerikanern, die filmvermittelnd arbeiten, ist Tag Gallagher.
Ja, von ihm wollte ich gerade sprechen, denn seine Film-Essays gehören wirklich zu den interessantesten Sachen, die in diesem Feld gemacht wurden. Sie sind sehr gut und wichtig.
Grundsätzlich stößt die Möglichkeit des internationalen Austauschs zwischen Kinobegeisterten oft an die Grenzen der sprachlichen Fähigkeiten. Besonders die Franzosen haben sehr lange gebraucht, bis sie berücksichtigten, was auf Englisch über das Kino geschrieben und gedacht wurde. Als ich anfing zu arbeiten, wußte man nichts über die Bestände der amerikanischen Bibliotheken. Seitdem hat sich die Situation spürbar verbessert. Als ich 1979 über Nicholas Ray arbeitete, passierten zwei Dinge zugleich: Die Bibliotheken öffneten sich für die Archive der Studios und auch für die Nachlässe einzelner Filmemacher, und das Medium Video tauchte auf. Gleichzeitig, und ein bisschen paradox, war es sehr schwierig, in der hiesigen Cinémathèque Zugang zu den Dokumenten zu bekommen, weil sie nicht darauf eingerichtet war. Was gedruckte Dokumente angeht, hatten nur sehr wenige Cinéphile sowohl die Fähigkeit als auch die Lust und Neugier, englischsprachige Bücher wahrzunehmen. Mein Buch über Nicholas Ray sollte diesen Graben überbrücken. Ich wollte den französischen Ansatz, den Filmemacher Ray auf sehr instinktive und emotionale Weise zu beschreiben, mit dem ultra-professionellen, wenn nicht sogar pro-industriellen amerikanischen Denken verbinden. Die Amerikaner sagten ja immer: Ja ja, ihr Franzosen, Eure Träumereien sind ja sehr schön, aber ihr habt ja keine Ahnung, wie Filme in Wirklichkeit gemacht werden. Mein Buch war ein Test, ob man beides miteinander verbinden könnte.
Ist die filmhistorische Perspektive auf einen Film im Falle der Bonusmaterialien für DVDs nicht teurer? Wenn man wirklich zu den Quellen zurückgehen möchte, kostet das Zeit und Geld.
Das stimmt, aber zugleich sind einige Quellen ja leicht zu finden. Claude Chabrol beispielsweise ist ja eine exzellente historische Quelle. Leute wie Chabrol oder Rohmer sind enorm wichtig als Quellen, insbesondere für die Perspektive auf das Kino, die mindestens zwei wichtige Veränderungen durchlaufen hat. Es gab den Bruch durch die Nouvelle Vague, und dadurch ist das Kino zu etwas Respektiertem geworden, egal, ob man es nun als Kunst bezeichnet oder nicht. Und dann gab es die Umwandlung des Kinos in etwas, das sehr leicht durch das Kabelfernsehen oder die DVD zu konsumieren ist – es entstand eine Kultur, zu der jeder Zugang haben kann und die unmittelbar verfügbar ist. Heutzutage kann ein Cinéphiler in zwei oder drei Jahren im Kabelfernsehen ebenso viele Filme sehen wie ich seinerzeit in zehn Jahren in der Cinémathèque. Ich erinnere mich noch, dass es Filme gab, auf die ich mehrere Jahre warten musste, nur weil Langlois mit dieser oder jener Cinémathèque im Clinch lag oder er einen anderen Film zeigen wollte, weil es sich nicht lohnte, die Kopie zu holen. Es gab allerdings auch den umgekehrten Fall: Einmal hat mir Kevin Brownlow erzählt: »Wir haben jetzt The Italian von Thomas Ince wiedergefunden. Der ist ganz außergewöhnlich!« Und als ich ihn dann angeschaut habe, merkte ich: Den hab ich ja schon drei Mal in der Cinémathèque gesehen, nur unter dem Titel Le gondolier de Venise. Langlois hatte davon niemandem etwas erzählt. Insofern existiert heute eine andere Form von Cinéphilie. Der Zugang ist sehr viel leichter und die zahl der Filme, die man sehen kann, sehr viel größer. Auch die Zahl der Kommentare und Texte ist stark angestiegen.
Um noch einmal auf Lang zurückzukommen: Ich glaube, dass er einer der Filmemacher ist, bei denen die Artikulationsformen des Kinos am deutlichsten lesbar sind, wo die kinematographische Maschine am sichtbarsten ist. Als Patrice Rollet in einer der ersten Ausgaben von »Trafic« über Lang schreiben wollte, hat Daney ihm geantwortet: »Naja, Lang macht jeden intelligent!« Der arme Rollet hat dann drei oder vier Ausgaben abgewartet, bis er sich getraut hat, den Lang-Text zu schreiben. Hitchcock ist natürlich der andere Gegenstand, der diese Klarheit hat. Ich erinnere mich an die Wiederentdeckung, die Rivette und wir alle in einer der Hitchcock-Retrospektiven hatten, das muss um 1970 herum gewesen sein, in der Epoche der unabhängigen Cahiers, in denen Rivette sehr präsent war. Wir haben seinerzeit die englische Phase Hitchcocks komplett wiederentdeckt, und zwar genau aus dem Grund, dass die Kino-Sprache in diesen Filmen noch sichtbarer ist als in den amerikanischen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Grund auch für die Popularität Fritz Langs. Das macht jeden intelligent und lässt einen das Kino verstehen. Aber das allein kann es wiederum auch nicht sein, denn da könnte man auch jemanden wie William Wyler heranziehen, der sehr viel interessanter ist als man es gemeinhin sagt. Lang berührt darüber hinaus sehr starke und intime Triebe; vor allem die Sexualität und das Thema des Mordes. Wenn Hitchcock und Lang die beiden Filmemacher sind, die sowohl vom breiten Publikum als auch von den Essayisten wertgeschätzt werden, dann liegt das auch daran, dass in ihren Filmen etwas ganz unerklärliches und sehr mysteriöses zurückbleibt, das schwer anzusprechen ist, man aber genau ausdrücken müsste. Ich selbst bin darin nicht besonders gut, vielleicht ist das auch nicht meine Aufgabe. Man kann natürlich nicht das »totale Buch« schreiben, aber das bleibt eine Frage, die nicht durch eine anekdotische Biographie zu klären ist, die man an den Filmen selbst beantworten muss. Vor allem an den beiden Filmen, die Lang selbst produziert hat – Scarlet Street und The secret beyond the door, die von nichts anderem sprechen. Für das Thema Kindheit hat Bergala schon ein bisschen von diesen Sachen gesprochen. Sagen wir es so: Es gibt da noch Geheimnisse, so wie Eustache es sagte, als er den Renoirfilm von Jacques Rivette schnitt: »Ich habe ein Geheimnis bei Renoir entdeckt.«
Bei Sunrise bin ich nicht besonders zufrieden mit dem, was ich gemacht habe. Ich habe da große Schwierigkeiten, einen Blickwinkel als Historiker zu finden. Mir entgeht da vieles im Film. Aber Sunrise stand im Lehrplan für die Gymnasien, und deshalb hat es etliche Bücher, Essays und Seminare dazu gegeben. In diesem Sinne ist auch mein Film über Sunrise vielleicht für einige Leute von Nutzen gewesen und meine Unzufriedenheit ist für andere ein bisschen produktiv gewesen. Wollen wir’s hoffen...
In `Un joli mot, le montage!`:film: verwenden Sie eine ganzes Arsenal an filmvermittelnden Techniken. Es gibt zwei Stimmen, von denen die eine ausschließlich die Zitate spricht und die andere den Kommentar. Und es gibt eine ganze Reihe von unterschiedlichen Bildtypen, vom Standfoto über den Filmausschnitt hin zur Abbildung von Artikeln. Und sie fügen auch Gemälde und andere Beispiele aus den übrigen Künsten ein. Erzählen Sie uns doch ein bisschen über diese Entscheidungen als Filmemacher eines solchen Films.
Ich wollte wirklich, dass sich neben dem rationalen Aspekt – sprich: einer Erläuterung der unterschiedlichen Montagetypen, auch ein sinnliches Gefühl dafür vermittelt, was das damals gewesen ist. Das ist etwas, was ich in keinem Text hätte schildern können, es sei denn auf sehr sentimentale Weise. Mir schien es extrem wichtig, die allgemeine Stimmung der 20er Jahre zu evozieren und dafür alle Mittel zu nutzen. Dazu gehören zwingend die übrigen Künste, denn die Protagonisten dieser Zeit waren sich ja untereinander sehr nah. Auf die Wahl der Musik bin ich zudem sehr stolz. Dazu habe ich mir wirklich intensive Gedanken gemacht, außer an den Stellen, wo die Musikauswahl durch das Material festgelegt war; so im Falle der amerikanischen Aufnahme zum Vertovfilm durch das Alloy Orchestra, einer Musik, die angeblich auf Aufzeichnungen Vertovs beruht, für mich aber eher nach dem Amerikanismus Kuleshovs klingt.
In den anderen Fällen stammt die Musik von den Avantgardisten der Epoche, die heute völlig in Vergessenheit geraten sind. Auch ich bin nur durch musikalische Freundschaften an die Aufnahmen gekommen. Der Film beginnt ja mit einem Ausschnitt aus einem vorrevolutionären Film. Das war eine Idee von Bergala, mit der ich sehr zufrieden bin. Auch in diesem Fall hatten wir mit materiellen Einschränkungen zu tun. Wir konnten nur solche Filme benutzen, von denen es Kopien in Paris gab. Ich hätte sicher nicht diese Filme – oder jedenfalls nicht alle von ihnen – ausgewählt, wenn ich auch in Moskauer Archiven hätte arbeiten können.
Erklärt das auch die Tatsache, dass die Ausschnitte in einigen Fällen auf Fernsehgeräten gezeigt werden?
Genau. In diesen Fällen hatten wir keine Filmkopien, aber ich besaß VHS-Kassetten oder Laserdiscs. Die Idee kam mir durch Bitomskys Film über die UFA – allerdings standen uns keine so schönen Sony-Fernseher zur Verfügung. Aber im Endeffekt funktioniert das ganz gut.
Das gleiche gilt für die Gemälde. Ich hatte viele Kataloge und Kunstbücher aus meiner eigenen Sammlung mitgebracht, aber es gab auch eine Frau für die Bildrecherche, die sehr gute Dinge gefunden hat.
Stand am Beginn dieses Projekts eigentlich der Filmemacher Dziga Vertov oder eher der Begriff Montage?
Der Auftrag, etwas zu Dziga Vertov zu machen, kam von Bergala. Ich selbst hätte lieber zum Begriff der Montage gearbeitet. Vor allem, weil die Dinge in den Schulzusammenhängen oft schnell gehen müssen und enge Fristen gesetzt sind. Ich habe daher zu den Leuten vom CNDP gesagt: »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder mit den Rechteinhabern in Moskau verhandeln oder mit der Pariser Filmproduktions- und Distributionsfirma Arkeion, denn da gibt es ein stillschweigendes Einverständnis, dass sie die Rechte der in Paris liegenden Filme nutzen dürfen.« Natürlich hat das CNDP sich für diese Möglichkeit entschieden. Da Arkeion aber von Vertov nicht besonders viel Material hat, kam es kaum in Frage, einen Film nur über Vertov zu machen. Aus diesem Grund kam Bergala dann auf die Idee, das Thema auf die sowjetische Montage auszuweiten und das pädagogisch aufzubereiten. Das war mit Sicherheit die bessere Idee, denn Vertovs eigener Film – Der Mann mit der Kamera erklärt ja die Vertovsche Form der Montage selbst und braucht gar keinen zusätzlichen Kommentar.