Cinéphilie: André S. Labarthe
André S. Labarthe
»Die Fiktion unter dem Dokumentarfilm, wie unter dem Pflaster der Strand.«
—André S. Labarthe
Es ist ganz einfach André S. Labarthe zu ärgern: Man muss nur die Filme, die im Rahmen seiner beiden Sendereihen Cinéastes de notre temps (1964-1972) und Cinéma, de notre temps (1989-2001) entstanden sind, als Reportagen oder Porträts bezeichnen. Auch die Bezeichnung Dokumentarfilm will er nur unter Vorbehalt gelten lassen. Und wenn man die beiden Reihen als Formate tituliert, kann man eigentlich gleich wieder nach Hause gehen.
Wenn man an diesen Fettnäpfchen vorbei balanciert, ist alles gut.
Was wir damals unter Einstellung verstanden
2007, an einem Herbstnachmittag empfängt mich André S. Labarthe in einem Café, das er vorgeschlagen hat, in der Nähe seiner Wohnung in der Rue Ramey. Etwas beschämt nehme ich ein Geschenk von ihm entgegen, ein kleines Buch mit seinen, wie er es nennt, unbehausten Gedanken (»Pensées sans domicile fixes«) zu drei Schriftstellern: Georges Bataille, Philippe Sollers und Antonin Artaud. Es ist eine Art Arbeitstagebuch, entstanden während der Vorbereitungen zu seinen Filmen Bataille à perte de vue (1997), Sollers, l’isolé absolu (1998), Artaud cité, atrocités (2001). Während dieser drei Projekte war es für ihn schon absehbar, dass es mit Cinéma, de notre temps zu Ende gehen würde. Die drei Schriftsteller-Porträts – jetzt ist das schlimme Wort doch gefallen – hat er für das französische dritte Programm gedreht, im Rahmen der Serie Un siècle d’écrivains.
Die folgenden Interviewauszüge sind, sofern nicht anders vermerkt, dieser Begegnung im Herbst 2007 entnommen:
»Ist von Cinéma, de notre temps die Rede, geht es fast nie um die Inszenierung, dabei sollte man meiner Meinung nach vor allem davon sprechen! Als ob ›Inszenieren‹ einzig und allein der Sparte Spielfilm vorbehalten wäre. Die Dokumentarfilmer setzen dem zwar immer wieder Begriffe wie ›Einstellung‹ oder ›Strategie‹ entgegen, aber vergeblich.«
Worum es Labarthe im Zusammenhang der von ihm und Janine Bazin im Jahr 1964 initiierten Sendereihe ging:
»Was wir damals unter ›Einstellung‹ verstanden, war weniger ein Arrangement, um Ordnung in eine Szene zu bringen, als vielmehr der Versuch, all den kleinen Details, die man für unwichtig, merkwürdig, anekdotisch oder einfach nur verrückt ansehen könnte, die Tür zu öffnen. Diese Dinge sind der Stoff, aus dem Filme gemacht sind. Der Feind ist für mich, wenn ich das so sagen darf, die Absicht. Der Sinn der Inszenierung ist für mich, jegliche Spur von Absicht zu verwischen. Sie werden deshalb verstehen, welch große Bedeutung Begriffe wie Chance, Gelegenheit, Experimentieren für mich haben. Diese Dinge interessieren mich ungeheuer, denn sie sind entscheidend für die Reflexion über das Wesen des Kinos.«
Das Wesen des Kinos?
»Während der Vorführung von L’Avventura, 1961 in Cannes, ging in mir etwas vor, das ich damals noch nicht benennen konnte. Hinzu kam, dass ich mich im Zusammenhang der Cahiers du cinéma so allein damit fühlte: Truffaut lehnte Antonioni völlig ab. Godard ließ ihn unter vielen Vorbehalten gelten. Den anderen war er gleichgültig. Mir dagegen kam es vor, als hätte das Kino mit L’Avventura entdeckt, 65 Jahre nach dem es erfunden worden war, was sein Zentrum ist, nämlich nicht irgendwelche Geschichten oder Stars, sondern die Zeit. Zum ersten Mal konnte man auf der Leinwand sehen, wie Zeit verging. Das war der wesentliche Grund, der die Leute so gestört hat an diesem Film. Sie wussten nichts damit anzufangen. Die Zeit wurde bis dahin im Kino immer gern fallen gelassen, wie eine heiße Kartoffel. Antonioni führte ein anderes Zeitregime ein. Bei ihm ging es nicht um einen ökonomisch sinnvollen Verbrauch von Zeit, wie etwa in den Filmen, die mit Spannung arbeiten, wo man von einem Punkt A losgeht, um an Punkt B anzukommen. Stattdessen machte sich bei ihm Zeit als eine richtungslose Größe geltend, als etwas, das sich der Nutzbarmachung widersetzte. Dieser Widerstand war sein Thema, und für mich war das der Ausgangspunkt, ganz neu über das Kino nachzudenken. Seitdem folgte ich der Ahnung, dass man die Geschichte des Films vielleicht anders würde zusammensetzen können.«
Eine Maschine zum Denken der Zeit
Labarthe war der einzige aus dem Kreis der Cahiers du cinéma-Autoren der 1950er und 60er Jahre, der die Filme von Antonioni geschätzt hat. Er war auch der einzige, der in dieser Zeit einen Kino-Denker wie Jean Epstein überhaupt zur Kenntnis genommen hat, vermutlich weil er realisierte, dass sich in dessen Filmen und Schriften etwas ausdrückte, worum auch seine eigenen Überlegungen zentral kreisten.
Exemplarisch Jean Epstein in »Die Maschine zum Denken der Zeit« (1946):
»Ein weiteres erstaunliches Verdienst des Kinematographen liegt darin, die Möglichkeiten der zeitlichen Perspektive ins Unermessliche aufzufächern, zu vervielfachen und aufzulockern, die Intelligenz zur Gymnastik zu animieren, die ihr immer schwer gefallen ist: von eingefleischter Unbedingtheit zu instabilen Bedingtheiten überzugehen. Noch einmal: diese Maschine, die die Dauer in die Länge zieht oder verdichtet, die die variable Natur der Zeit offenbart, die die Relativität alles Messbaren predigt, scheint mit einer Art Psyche versehen zu sein. Ohne diese Maschine würden wir nichts sehen, nichts verstehen von dem, was tatsächlich 50.000 Mal so viel oder vier Mal weniger von der objektiven Zeit, in der wir leben, in Anspruch nimmt. Gewiss, diese Maschine ist von handfester materieller Substanz, mit ihrem Spiel aber bringt sie solch elaborierte Erscheinungen hervor, bietet sie sich so hervorragend als Werkzeug des Geistes an, dass man geneigt ist, sie als etwas zu nehmen, in dem selbst schon zur Hälfte Gedachtes niedergelegt ist; Gedachtes, das den Regeln von Analyse und Synthese in einer Weise folgt, wie es der Mensch ohne das Instrument der Kinematographie unfähig gewesen wäre zu tun.«
Labarthes Text »Jean Epstein à l’état naissant« im Heft 202 (Juni-Juli 1968) der Cahiers du cinéma war die erste Auseinandersetzung der Zeitschrift mit den Protagonisten der Ersten Nouvelle Vague (L’Herbier, Epstein, Dulac, Delluc) seit 1955. Es war auch Teil des »System ASL«, dass diese Beschäftigung ihren Niederschlag zusätzlich auf einer anderen Plattform fand: 1968 entstanden für Cinéastes de notre temps zwei Filme zum französischen Stummfilm der 1910er und 1920er Jahre: La première Nouvelle Vague: Delluc et Cie. und La première Nouvelle Vague: Marcel L’Herbier et Jean Epstein, une révision, beide unter der Regie von Noël Burch und Jean-André Fieschi.
Filmgeschichte ohne Masterplan
1985 gab es erstmals öffentliche Vorführungen einiger Sendungen aus der Reihe Cinéastes de notre temps im Pariser Kino Olympic. Zu jener Zeit hatte einerseits das INA (Institut National de l’audiovisuel) erkannt, welches kulturelle Erbe (patrimoine audiovisuel) diese Filme darstellen, andererseits welches Programmvermögen (droits de propriété sur les programmes) darin steckt. Zu den Vorführungen erschien ein Programmblatt, in dem Janine Bazin und André S. Labarthe ein Resümee ihrer Arbeit bis dahin zogen:
L’INA et L’Olympic présentent
»(…) Eine Vorstellung, dass sich die Filme zu einem puzzleartigen Zusammenhang fügen sollten, hatten wir natürlich im Kopf, als wir 1964 die Reihe der Entwicklungsabteilung des ORTF (Office de Radiodiffusion Télévision Française) vorgeschlagen hatten, aber erst in der täglichen Produktion unter sich permanent wandelnden Bedingungen – worin sich auch das wechselnde Interesse ausdrückt, mit der ihr die Programmdirektoren der wechselnden Sender begegneten – haben wir uns um die Präzisierung bestimmter stärker oder schwächer ausgebildeter Konturen bemüht, ähnlich dem Landbriefträger Cheval, dessen idealer Palast ja auch nach und nach, zwischen 1879 und 1912 und Stein um Stein entstand, je nachdem, welche Materialien ihm gerade zur Verfügung standen.
So war die Sendung in ihren Anfängen kein festes Format, sie folgte keinem Masterplan, war eher in der Zeit ihrer Entstehung verankert:
Von 1964 bis 1967 orientierten wir uns, wie viele andere Programme aus dieser Phase des Fernsehens, an einem Stil, der direkt aus dem Cinéma-Vérité herkam: vorherrschend waren Reportagetechniken (plötzlich gab es die Möglichkeit, Bild und Ton synchron aufzunehmen, wovon wir exzessiv Gebrauch machten), lange ununterbrochene Gesprächssequenzen und ein Gleichgewicht zwischen Aufnahme und Montage. Daneben spielten die Überlegungen, wie wir mit Filmausschnitten umgehen wollten, eine entscheidende Rolle: Es ist uns bald klar geworden, dass es ja möglich sein müsste, die Funktion dieser Ausschnitte zu variieren. Welche Varianten gibt es: zuerst natürlich die illustrierende oder zitierende, welche sich sehr schnell ihren Platz im Zusammenhang der Dynamik der Montage erobert hat, allein schon weil sich darüber so offensichtliche Anschlüsse eröffnen. Erstaunliche Konsequenz allerdings: In der Montage konnte es passieren, dass die Filmbilder ihr Gewicht verloren oder dass sich der Autor im Staub seiner Schöpfung auflöste. Zwischen den beiden Bildebenen, also dem Bild der Sendung einerseits und dem Bild des Filmemachers bzw. seinem Werk andererseits, eröffnete sich ein Spielfeld, auf dem wir mit Strategien des Umkehrens und Umfüllens ganz neue Erzählmöglichkeiten ausloteten. Wir sahen uns mit der Möglichkeit ausgestattet, dass zum Beispiel Godard eine Godard-Figur wurde und die tatsächlichen Aufnahmen des kanadischen Cinéma Vérité-Pioniers Pierre Perrault wie fantastische Projektionen eines Autors dieses Namens wirkten.
Im Anschluss an diese Experimente, gegen Ende des Jahres 1967, erschien es uns deutlich, dass die Cinéma-Vérité-Methode, die die Codes des bisherigen Fernsehens zugunsten des Kinos (und sei es das dokumentarische) über den Haufen geworfen hatte, ihrerseits Formeln erzeugte, die ebenso, nur viel schneller, in Sklerose zu enden drohten.
Seither wollten wir unsere Türen auch einem gewissen formalen Überschwang öffnen, was uns als die angemessenste Art erschien, die Rückständigkeit zu bekämpfen, von der wir uns umgeben sahen. Das Cinéma-Vérité ins Feld der überlebten Formen zu verbannen, indem wir dessen Postulate umkehrten oder, im Gegenteil, indem wir die Sackgassen dieser Methode hervorhoben, war das Anliegen dieser Umbauphase von Cinéastes de notre temps, die ihren Ausdruck in den Sendungen fand, die wir Samuel Fuller, Josef von Sternberg, Alain Robbe-Grillet, Shirley Clarke, Jean-Pierre Melville, Claude Autant-Lara und Norman McLaren widmeten.
So kam es, dass wir mit Verdrehungen, Fälschungen und Spiegelungen arbeiteten, Posen und Attitüden entwickelten, auf Künstlichkeit und Schein setzten (wie in der Sendung über Melville) oder dass wir mit verschiedenfarbigen Hintergründen (schwarz und rot bei Autant-Lara) arbeiteten und eine Interviewsituation aufbauten, in der wir je einen Interviewer links und rechts von der Kamera sitzen ließen (was, um beim Beispiel von Autant-Lara zu bleiben, dazu führte, dass sein Blick immer unruhig über die Achse wanderte). All das waren kleine Ticks oder Tricks, mit denen wir die Illusion einer selbstverständlichen und hundertprozentigen Wahrheit, die sich in einem Interview angeblich herstellen soll, knacken wollten. Oder noch anders: beim Film über den kanadischen Trickfilmer Norman McLaren haben wir elektronische Masken in seine Filme ›gestanzt‹, aus denen heraus er erschien und sprach.
Das war 1972, im letzten Jahr von Cinéastes de notre temps.«
Bis dahin waren 51 Sendungen in einer Länge zwischen 25 Minuten und zwei Stunden produziert und gesendet worden. Darüber hinaus gab es rund 50 Stunden unbearbeiteter Aufnahmen für 18 weitere Sendungen sowie Rohschnitte für vier Specials – eines davon verloren gegangen: eine Betrachtung zum Jahr 1968, produziert während der Filmfestspiele von Venedig mit Jean Renoir, Roberto Rossellini, Jean-Marie Straub und dem damaligen Festivalchef Luigi Chiarini.
Ein Komma als Statement
Zu Ende gegangen war die Reihe damals nicht aufgrund einer klaren Entscheidung, sondern als Folge von ›Wetterumschwüngen‹, so Labarthe, wie sie sich manchmal im Fernsehen eben ereignen: »Jacqueline Baudrier war gerade als neue Direktorin des ORTF bestimmt worden, und bei ihrer Programmplanung für die Zeit nach den großen Ferien im Jahr 1972 hat sie uns einfach übersehen. Es war anscheinend wirklich kein böser Wille, nur Vergesslichkeit. Wir waren plötzlich der Koffer, der noch auf dem Bahnsteig stand, während der Zug schon längst außer Sichtweite war. Wir haben unsere kleine Truppe zwangsläufig aufgelöst, und jeder hat seine eigenen Projekte weiterverfolgt. Erst nach 13 Jahren, es wurde an der Gründung von La Sept herum laboriert, hat sich anscheinend wieder jemand an die vergessenen Koffer erinnert, und man fragte uns, ob wir uns vorstellen könnten, zu bestimmten Anlässen (z.B. Filmreihen, runde Geburtstage, Nachrufe) Material aus den früheren Sendungen von Cinéastes de notre temps wieder aufzubereiten. Zuerst haben wir abgelehnt, bei diesem elenden Recycling- und Gedenk-Gottesdienst-Getue mit dabei zu sein, denn das wäre wirklich das Gegenteil unserer ursprünglichen Idee gewesen. Stattdessen arbeiteten wir für die Programmplaner ein Gegenkonzept aus: Die bisherigen Filme sollten nur als Grundstock für eine neue Sendereihe genommen werden, mit deren Titel Cinéma, de notre temps wir sowohl Kontinuität als auch Bruch signalisieren wollten. Es schien uns evident, was allerdings von den Programmverantwortlichen niemand wirklich verstand, dass wir zum Kino, als Ausdruck unserer Zeit ebenso selbstverständlich das Werk verstorbener Filmemacher wie Lumière, Pasolini oder Vigo zählten, wie Filme von Künstlern, die ganz aktuell ihre große Zeit hatten, und deren Arbeit wir mit neuen Filmen begleiten wollten, wie etwa Nanni Moretti, David Lynch, Abbas Kiarostami, die ganz oben auf unserer Wunschliste standen. Wir stellten uns vor, Altes und Neues zu verbinden und darüber so etwas wie ein Familiennetz zu spinnen, nicht das Heute gegen das Gestern auszuspielen. Man ließ uns schließlich, wenn auch unverstanden, gewähren.«
Das Komma im Titel war den Erfindern sehr wichtig: eigentlich war es sogar das wesentliche Statement. In dieser Reihe sollte das Fernsehen jenen Filmen und Filmemachern den roten Teppich ausrollen, denen unsere Zeit einerseits Material, andererseits Anliegen war.
Qu’est ce que le cinéma?
»In beiden Sendereihen sollte es nicht darum gehen, die Filmgeschichte zu inventarisieren, sondern eine solche Geschichte in der Gegenwart erst zu konstruieren. Vielleicht hatten wir dabei den Satz von Faulkner im Sinn, nach dem die Vergangenheit nicht tot, ja dass sie noch nicht einmal vergangen sei. Manchmal übrigens, wenn es sich ereignet, dass ich zwei oder drei Folgen im Zusammenhang sehe, wundert es mich, wie wir immer wieder und fast schon übermütig darauf zugesteuert sind, innerhalb der ›Familie‹ jener Filmemacher, die uns interessierte, deren unglaubliche Verschiedenheit herauszuarbeiten. Wenn wir uns manchmal fragten, was das Kino eigentlich sei, dann war zwar klar, dass es einen bestimmten Modus des Empfindens und Reflektierens darstellte, dass sich daraus jedoch keinerlei verbindliche ästhetische Rezepte ableiten lassen würden. Wenn man zum Beispiel die Erklärungen Chabrols zur Hässlichkeit des Zooms verfolgt, und unmittelbar darauf Rohmer zuhört, wie er den Zoom im Vergleich zur Schwerfälligkeit einer Kamerafahrt lobt, dann geht es nicht darum, zwei gegensätzliche Geschmäcker zur Disposition zu stellen, sondern aus verschiedenen Straßen zu kommen, damit sich plötzlich zwei wunderbare, gleichwohl komplett unterschiedliche Blickperspektiven auf das gleiche großartige Gebäude eröffnen. Anderes Beispiel: Man vergleiche das, was Rohmer über den Zufall in Filmen sagt mit der sanften Tyrannei von Dreyer, über den Rohmer eben auch einen Film für die Reihe gedreht hat. Nach sechzig, siebzig Filmen, die wir gemacht haben, wird vielleicht die Idee greifbar, was für uns Kino ist, und wofür vielleicht Renoir als Symbol steht: Es braucht von allem etwas, damit es eine Welt ergibt.«
Das Persönliche gegen das Biographische
Im Zusammenhang des Films ist es zu einer schlechten Angewohnheit geworden, das Biographische als Erklärungshilfe auszuschlachten, so wie Ertrinkende eben instinktiv nach einem Strohhalm greifen. Die große Überzahl der Filme, die entweder für Cinéastes de notre temps oder Cinéma, de notre temps entstanden sind, entsagt diesem Notgriff. Einige Male, vor allem bei frühen Filmen über bereits damals verstorbenen Veteranen des Kinos (Sacha Guitry [1965], Jacques Becker [1965], Erich von Stroheim [1965], Max Ophüls ou le plaisir de tourner [1965], Jean Vigo [1964]), verfallen die Sendungen dennoch in das biographische Muster und dienen insofern als fantastische Vergleichsmodelle, um besser zu erkennen, was das eigentliche Prinzip der beiden Sendereihen war:
»Sobald wir uns Filmemachern in ihrer ganzen Präsenz gegenübersehen, ihrer Körperlichkeit, ihrem Sprechen, brauchen wir keine Biographie mehr. In meiner Idealvorstellung ist jeder einzelne Film der beiden Serien ein Prototyp. Wir nehmen einen Filmemacher, heiße er Imamura oder Fuller oder Autant-Lara, und behandeln ihn nicht als die reale Person, die er sicher auch ist, sondern als sein Double. Am Beispiel von Eric Rohmer kann man das, glaube ich, gut verdeutlichen: Rohmer hat sich als Filmemacher ja sowieso eine eigene Persona erfunden, die vielleicht sogar im völligen Gegensatz zu der Person steht, die er im bürgerlichen Leben ist, nämlich Maurice Schérer. Und wenn wir einen Film über Rohmer machen, dann geht’s darin eben um Rohmer und nicht um Schérer. Eigentlich jeder Filmemacher, mit dessen Werk wir uns beschäftigt haben, ist von uns demontiert und remontiert worden. Vielleicht so, wie wenn man den Eiffelturm drehen will und sich dafür ein Modell baut, das man ins Studio stellt, damit man das, was einen an dieser Konstruktion eigentlich interessiert, besser herausarbeiten zu können.«
Der Schmuggler schmuggelt wo er kann, der Wind weht wo er will
In einem Interview zur Ausstrahlung von HHH, dem Film von Olivier Assayas über Hou Hsiao Hsien, erklärte Labarthe, dass er, wenn es nach ihm gegangen wäre, die Sendung gern mit einem Lauf-Insert versehen hätte: »Ceci n’est pas une émission de télévision.« So wäre die Erwartung eines mittleren Realismus im Fernsehen ein bisschen unterspült worden, und man hätte darin auch eine Hommage an Magrittes berühmtes Bild von der Pfeife – »Ceci n’est pas une pipe« – sehen können. Nicht müssen!
Ein Typ gegen den Strich
Ein Eintrag zu André S. Labarthe in dem von René Prédal herausgegebenen Lexikon 900 Cinéastes français d’aujourd’hui (1988) lautet:
»Er ist ein Dilettant, was keineswegs als Herabsetzung erscheinen soll. Labarthe erscheint wie ein moderner Des Esseintes, der exzentrische Ästhet und Antiheld in Joris-Karl Huysmans Roman Gegen den Strich: als Liebhaber von Kunst, Literatur und Kino, saugt er unbekümmert seinen Honig, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, diese Produktion zu kommerzialisieren. Beständig ist er auf der Suche nach Überraschendem, ohne mit seinen Entdeckungen hausieren zu gehen. Resultat: eine eher dünne Bilanz im Verhältnis zu seinen Gaben und der Vielfalt der Gebiete, in denen er sich umgetan hat. Er hat über Bücher über Science Fiction-Literatur und die Nouvelle Vage geschrieben, gründete eine Filmzeitschrift (L’Écran), war Mitarbeiter der Cahiers du cinéma und von Radio-Cinéma-Télévision, schrieb das Vorwort zu einem Buch André Bazins und schauspielerte hier und da, d.h. bei Godard (A bout de souffle) und Rivette (L’amour fou), aber auch in manch unerheblichem Fernsehfilm (…). Seit zehn Jahren bereitet er eine Studie über La passion de Jeanne d’Arc vor und insistiert in diesem Zusammenhang darauf, den Film nicht wiederzusehen, was seinen Geschmack am Paradoxen gut verdeutlicht. Dann ist er noch mit Abstand der Beste, um über Kandinsky oder den Impressionismus zu erzählen – was er in zwei Filmen unter Beweis gestellt hat – und in dem gemeinsam mit Jean-Louis Comolli gedrehten Film-Pamphlet Les deux Marseillaises, zum Wahlkampf im Jahr 1968 spielte Roger Hanin, obzwar unfreiwillig, seine beste Rolle bisher. Er kann und er sollte uns weiterhin überraschen.«
Flashback: 1964
Der erste Film, den André S. Labarthe für die Sendereihe Cinéastes de notre temps produzierte, war ein Beitrag über Luis Buñuel:
»Wir sind nach Toledo gefahren. Ich habe mich mit Buñuel in einem Garten oberhalb des Tajo unterhalten, Robert Valey führte Regie und war auch für den Schnitt zuständig. Als der Film fertig war, war die Enttäuschung groß. Etwas fehlte. Als guter und echter Professional hatte Robert Valey nur das getan, was ich bei der Transkription für eine Zeitschrift auch getan hätte, nämlich alles Störende rauszuschmeißen (oder, wie man es beim Fernsehen eben macht, durch Zwischenschnitte zu verstecken): also keine unfertigen Sätze, Keine Verzögerungen, kein Schweigen. Damals ist mir aufgefallen, dass ein Schweigen, wenn man es aufzuschreiben versucht nur einen weißen Fleck ergibt, dass das gefilmte Schweigen dagegen sehr belebt ist. Ein Bild transportiert eben mehr als nur das, was sich direkt in Worte übersetzen lässt. Man kann das ›Unleserliche‹ behalten. Manchmal stellt es sich sogar als das eigentlich Wichtige heraus.«
Für Buñuel war es damals nicht begreiflich, dass ihn jemand als auteur sehen würde, dass man die Reihe seiner disparaten Filme als kohärentes Ganzes rezipieren könnte. Etwas Ideales muss sich im Frühjahr 1964 bei diesem kleinen Fernsehprojekt ereignet haben: ein Austausch. Diese Begegnung soll einerseits in Buñuel den Keim der Vorstellung gepflanzt haben, so Jean-Claude Carrière, dass es vielleicht doch nicht ganz unsinnig sei, eines Tages einmal seine Erinnerungen aufzuschreiben, und Labarthe entwickelte andererseits aus dem Treffen mit dem alten Mann des Surrealismus eine Art Grundvereinbarung für viele Filme, die im Rahmen von Cinéastes de notre temps und Cinéma, de notre temps gedreht wurden, dass nämlich der Zufall der große Meister aller Dinge sei und danach erst die Notwendigkeit komme, da sie nicht die gleiche Reinheit besitze – ein lupenreines Abbild der künstlerischen Konzeption von Buñuel.
Es versteht sich von selbst, dass es objektive und subjektive und kontrollierte Zufälle gibt und natürlich auch, dass sie sich, so oder so, nur ereignen, wenn man sie zulässt.
Das Einrichten von Filmen über Filmemacher
Eine weitere schöne Zufallsgeschichte rankt sich um den Film über John Ford (Entre chien et loup), den André S. Labarthe und Hubert Knapp 1965 gedreht haben:
»Als wir ihn trafen, empfing er uns im Pyjama, er war bettlägerig und schlecht gelaunt. Es war völlig klar, dass dieses Treffen nur kurz dauern würde. Wir haben sofort ausgepackt und gedreht, vielleicht 20 Minuten. Als wir die Muster angeschaut haben, sind wir zwar von den Sitzen gerutscht vor Lachen, aber es war zugleich auch katastrophal. Es gab buchstäblich nichts, was man aus dem Material für ein seriöses Interview hätte verwenden können. Was den Informationsgehalt anging, war es die absolute Nullität. Wir haben uns relativ verzweifelt an die Montage gemacht, haben es mit Ausschnitten versucht, aber es wurde nur noch schlimmer. Erst nach Wochen, oder weil wir gezwungen waren, immer wieder die Muster anzusehen, wurde uns klar, dass wir den fertigen Film eigentlich schon vor uns hatten: unser Film waren die Muster, mit den Klappen, mit dem Schwarzfilm dazwischen und einem John Ford, der dieses Schwarz mit seiner sonoren Stimme geisterhaft belebt! Unser Problem war gewesen, dass wir uns einen Film erwartet haben, in dem John Ford über seine Vision vom Kino spricht – was nun aber nicht zustande gekommen ist. Stattdessen haben wir aber völlig unerwartet etwas ganz anderes bekommen: eine Begegnung mit einem Mythos. Eine Begegnung, die eigentlich nicht von dieser Welt ist. Wir hatten ein Geschenk erhalten und waren nur zu verstockt, es als solches zu sehen. In dieser Zeit haben wir gemerkt, dass wir uns im Fernsehen weder auf den Kommentar, noch die Eloquenz unserer Protagonisten kaprizieren sollten, sondern dass die Art und Weise, wie sie zu Charakteren werden, eigentlich das Ereignis ist, auf das wir abzielen. Bei jedem Film ging es darum, eine Begegnung ›einzurichten‹. Und die Einrichtung eines Films über Shirley Clarke muss natürlich eine andere sein als bei einem über Hitchcock oder Cronenberg.«
Kameramann bei John Ford - entre chien et loup war übrigens Seymour Cassel, Schauspieler aus dem Cassavetes-Clan und frischer Absolvent eines Kamerakurses, zu dem er von seinem Regisseur verpflichtet worden war, um bei FACES, gegebenenfalls als Second Unit einspringen zu können. Cassel setzte sich zu John Ford aufs Bett, stellte die Kamera an und nahm die Situation von der Schulter auf. Kennengelernt hatten ihn Labarthe und Knapp bei den Dreharbeiten zu einem Film über John Cassavetes, der allerdings erst drei Jahre später fertig gestellt werden sollte. Das Equipment wurde ebenfalls in einer Nacht- und Nebelaktion von Cassavetes geborgt, da das Kamera- und Tonteam, das sie eigentlich gebucht hatten, am Tag des Treffens mit John Ford kurzfristig zu einem aktuellen Einsatz abberufen worden war.
Und um den Reigen der Zufälle vollständig zu machen, ist noch wissenswert, dass Labarthe/Knapp eigentlich den Auftrag hatten, zwei ganz andere Filme fürs ORTF zu drehen: einen über die Warner Brothers und einen zweiten zum Western-Genre:
»Als wir in Hollywood ankamen, mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass Jack Warner, der noch lebende der beiden Warner Brüder, gerade an der Côte d’Azur war, um die Produktion des einzigen Warner-Films in jenem Jahr zu überwachen. Und zum Western, der ein ziemliches totes Genre war zu dieser Zeit, wollte sich eigentlich auch niemand wirklich äußern. Um bei unserer Rückkehr nicht ganz als Schmarotzer da zustehen, haben wir dann versucht, sehr viele Besuche zu machen, sehr viele Begegnungen aufzunehmen, sehr viele Interviews zu führen. Als wir danach die Bilanz dieser Reise ziehen sollten, konnten wir nur sagen: auf der Minus-Seite Warner und Western. Auf der Haben-Seite Ford und Hitchcock, sehr reiches Material für einen Film über Cassavetes, und eine Fülle von Interviews darunter mit Frank Capra, Rouben Mamoulian, Gene Kelly, Delmer Daves, Frank Capra, Mervyn LeRoy, Dmitri Tiomkin und Edward G. Robinson.«
Die Welle der Modernität
Eine Erinnerung von Jean Douchet, der mit Labarthe bei den Filmen Alexandre Astruc, l’ascendant taureau (1967), Claude Chabrol, l’entomologiste (1991) und Eric Rohmer: Preuves à l’appui (1994) zusammen gearbeitet hat:
»André war der große Unabhängige im Kreis der Cahiers. Damals war er häufig mit Jacques Siclier zusammen und offenbarte eine ausgeprägte Neigung zum Surrealismus, was er sich, glaube ich, bis heute bewahrt hat. Er wurde seit jeher von einer Passion für die Schrift und literarische Werke beherrscht, und seine Filme durchzieht bis heute ein sehr deutlicher Geschmack an der Literatur. Seine literarischen Bezüge war nicht die gleichen, wie die von, sagen wir, Truffaut. Als Ideal eines Schriftstellers galt bei den Cahiers du cinéma Balzac, und ich weiß nicht, ob André besonders viel übrig hatte für Balzac. Was für ihn ganz oben stand war Lautréamont. Das war natürlich ganz und gar kein Trennungsgrund, aber es drückt sich darin ein Unterschied in der Denkweise aus und in der Konzeption des Imaginären. Inzwischen würde sich vielleicht auch Godard eher in der Linie von Lautréamont sehen. Aber Rohmer kaum, Chabrol ebenso wenig und Truffaut bestenfalls entfernt. Rivette schließlich, zumindest was seine Filme angeht, eigentlich auch nicht so recht.
Für André war Lautréamont, glaube ich, die wichtigste Inspirationsquelle. Das hat ihm in Geschmacksfragen eine größere Unabhängigkeit verschafft. Er war eher Freischärler. Er war, lange vor Rivette, ein Modernist des Denkens, ohne dass er daraus eine Kampfzone gemacht hätte. Als die einst unschuldig von Rimbaud geschmetterte Losung ›Il faut être absolument moderne‹ als machtvolle Welle an die Ufer der Cahiers schlug, war André am besten vorbereitet, sich diese Welle zunutze zu machen. Ganz selbstverständlich und authentisch. Dabei ist er nie in die Pose des Vordenkers verfallen. Im Übrigen glaube ich sowieso, dass das Konzept des Vordenkers ihm unendlich fremd ist.«
Saint André des arts et métiers
Ende der 1970er Jahre hatten wir, fünf Marburger Filmclub-Aktivisten, André S. Labarthe in die Universitätsstadt an der Lahn eingeladen, wo er eine kleine Auswahl seiner Produktionen für Cinéastes de notre temps zeigen sollte.
Damals – ich vermute, dass es 1978 war – schwappte gerade die Debatte, wie (bzw. ob überhaupt) Fernsehen und Kino vereinbar seien, besonders hoch über den Rand des Wasserglases, worin verschiedene konträre Ansichten erheblich Sturm machten. Das Marburger Institut für Neuere Deutsche Literatur war gerade in einem zweiten Zellteilungsprozess begriffen: nachdem sich ein halbes Jahrzehnt zuvor die Linguistik abgespalten hatte, sollte nun in der Studienplanung die »fällige Öffnung der Germanistik gegenüber Film und anderen Medien« verankert werden. Irgendwie spukte uns damals, ohne dass es diesen Terminus überhaupt gegeben hätte, oder dass wir in der Lage gewesen wären, ihn zu erfinden, die Idee von einem Kinosparten-Kanal im Kopf herum und ebenso irgendwie war klar, dass diese Idee im Curriculum des umzugestaltenden Fachbereichs eine relevante Rolle spielen solle. In dieser Gemengelage, es war auch die Zeit, da Günther Rohrbach erstmals seine Thesen zum amphibischen Film publiziert hatte, erschien uns der Ruf nach einem Guru dringlich.
Dieser Guru war André S. Labarthe, und das Spektrum seiner Produktion stand uns als Idealbild vor Augen um das, was wir uns als eine Art offenen Kanal vorstellten, mit Inhalt (und Form!) zu füllen. In dieser Euphorie scherten wir uns natürlich einen Teufel darum, die riesigen Unterschiede zwischen deutscher und französischer Medienlandschaft (Unterschiede historischer, nationaler, ökonomischer, intellektueller und institutioneller Art) auch nur ansatzweise zur Kenntnis zu nehmen.
Leider war es so, dass Labarthe nach ein paar Briefen und Telefonaten abgesagt hat, allerdings nicht ohne uns zuvor seinen CV geschickt zu haben:
André S. Labarthe: CV 1978
Vage erinnere ich mich noch, dass wir mit ihm schon darüber gesprochen hatten, welchen discours er selber halten wollte, und ob wir ein manuscrit bräuchten, denn sein sermon müsse ja wahrscheinlich übersetzt werden. Und gleich hinterher: In dieser Hinsicht allerdings sei er ein schwieriger Kandidat, denn er wisse immer erst 10 Sekunden vorher, was er sagen würde. Auf jeden Fall müsse er auch davon sprechen, was er alles nicht ausstehen kann. Ich weiß, dass er vieles angedeutet hat, was es im Einzelnen war, habe ich vergessen. Erst 2008 dann ein Déjà Vu.
Je n’aime pas
Im Katalog für das Festival Côté Court in Pantin 2008 hatte Labarthe einen kleinen Text geschrieben, der mir so vorkam, als sei er das, was er vielleicht vor dreißig Jahren in Marburg erzählt hätte:
»Ich mag keine Romane (Ich habe nie Alexandre Dumas gelesen), aber ich liebe Balzac, Flaubert, Dostojewski und Faulkner – dazu eine Reihe anderer.
Ich mag keine Krimis (obwohl ich tausende verschlungen habe), aber ich liebe Chandler und Simenon, Dashiell Hammett und Gaston Leroux – dazu eine lange Reihe anderer.
Ich mag kein Theater (der finstere Geruch der Bretter, die angeblich die Welt bedeuten), aber ich habe Pirandello geliebt und Brecht; später auch Tadeusz Kantor und Richard Foreman; oder Jean Bois und Alain Platel; auch Alexia Monduit in einem Stück von Sarah Kane – sowie ein paar andere.
Ich mag keine Memoiren oder (allzu) intimen Bekenntnisse, aber ich liebe die Erinnerungen von Saint-Simon, Chateaubriands Memoiren von jenseits des Grabes, die Tagebücher von Virginia Woolf, Bruno Schulz und Franz Kafka, auch das autobiographische Schreiben von Georges Bataille und Catherine Millet.
Ich mag keine Musik (oft kann ich sie mir schenken, manchmal schenke ich sie mir – eigentlich täglich), aber ich liebe Mozart und Thelonius Monk, Schumann und Parker, Wozzeck und Rumba. Außerdem alles, was die Musik und die Metaphysik an Schwarzhandel miteinander treiben.
Ich mag das Kino nicht (inzwischen gehe ich nur noch selten, früher sehr oft), aber ich liebe dessen Mechanik – dieses Working System, wie es die Lumières erfunden haben – und außerdem: Buñuel, Stroheim, Renoir, Tati, Rossellini. Dann noch: Carmelo Bene und Godard und Rivette und viele (viele!) andere.
Ich mag auch das Fernsehen nicht (bestenfalls das, was an finstersten Trivialitäten eben dazu gehört), aber ich habe viel Fernsehen gemacht, immer im Kielwasser derer, die ich bewundert habe: Averty, Bringuier und Knapp, Claude Ventura und Dumayet und ein paar (wenige!) andere.
Ob ich vielleicht auch irgendwas mag? Vielleicht die Poesie?
Natürlich, die Poesie! Und ihre siamesische Schwester: die Philosophie. Hier, überall, jeden Moment, für immer.«
Jacques Rivette, le veilleur
Die Einrichtung eines Films über Jacques Rivette, gedreht 1990 von Claire Denis mit Serge Daney, den sich Rivette selbst als Interviewer gewünscht hatte: Die Grundidee für die Einrichtung dieses Films in zwei Teilen war ein ganz nebenher stattgefundener Dialog aus Jean Renoir, le patron, dem dreiteiligen Film, den Rivette 1965 über Jean Renoir gedreht hatte. Da fragte Renoir irgendwann: »Drehen Sie schon?« Und Rivette antwortete: »Ja, wie die Erde um die Sonne.«
In einer Galerie mit Bildern von Jean Fautrier. Vor den Gemälden, sie in sich aufnehmend: Jacques Rivette.
Ortswechsel: Serge Daney am Tresen eines Pariser Cafés. Er spricht über den Umgang Fautriers mit dem menschlichen Körper. Es ist der Aufschlag – wie beim Tennis – für die erste Unterhaltung des Films. In der rohen Ton-Ambiance dieses halböffentlichen Ortes führt Serge Daney das Gespräch. Es ist ein Führen im Sinne des klassischen Paar-Tanzes. Jacques Rivette lässt sich führen, oft ist er dabei ungelenk. Diese Situation – vor der Kamera – ist ihm keine natürliche Situation. Natürlichkeit wird nicht simuliert.
Claire Denis fungiert in dieser Sequenz, wie in allen weiteren Begegnungen von Jacques Rivette, le veilleur als teilnehmende Beobachterin. Ihr Führen besteht darin, das Feld zwischen möglicher Nähe und notwendiger Distanz auszuloten. Die Bilder kommen von der Schulter, nicht vom Stativ.
Serge Daney: »Jacques, es steckte etwas dahinter, dir die Bilder von Fautrier zu zeigen. Man hat sehr viel über Fautrier geschrieben, vor allem Paulhan, dass für ihn der menschliche Körper sehr wichtig war. Fautrier hat während und nach dem Krieg »Die Geiseln« gemalt. Er sagte, dass man nicht mehr so malen könne wie bisher. Eigentlich hätten zur gleichen Zeit Regisseure wie Rossellini, den du sehr bewundertest, ebenfalls sagen müssen, dass man nicht mehr so filmen könne wie bisher. Der Unterschied zwischen Malerei und Film liegt vielleicht darin, dass sich, zumindest bei Fautrier, alles auf das Gesicht konzentrierte, und zwar auf das entstellte, das defigurierte Gesicht. Der Film aber zeigte weiterhin Gesichter, Figuren und Schauspieler. Wenn man dann deine Filme der Reihe nach wieder sieht, fällt einem etwas auf – das wird dich vielleicht selbst überraschen –, nämlich dass du nie ausdrücklich Gesichter aufnimmst. Das Interesse ist sicher da, aber du bist nicht jemand, der in einem leidenschaftlichen oder schicksalhaften Moment oder zu einem dramaturgisch wichtigen Zeitpunkt sich zur Großaufnahme eines Gesichts entschließt. Das wirkt dermaßen systematisch, erscheint so sehr als eine mehr oder weniger bewusste Haltung, dass ich dir, vielleicht etwas abrupt, die Frage stellen möchte, was ist das menschliche Gesicht für dich als Filmregisseur? Du hattest doch genau deswegen ältere Regisseure sehr bewundert, wie Dreyer oder Bresson oder auch Godard, der weiterhin Gesichter filmt. Was ist für dich ein Gesicht? Muss man ihm fernbleiben, weil es so etwas Vertrauliches ist? Oder darf man Gesichter nicht mehr so filmen wie Griffith? Muss man es jetzt anders machen?«
Jacques Rivette (nach einem langen Schulterzucken, das als Geste der Sammlung zu lesen ist): »Ich glaube, die Frage ist nicht, ob man etwas darf. Ich habe einfach keine Lust, das Gesicht abzutrennen, den Körper zu zerstückeln. Ich weiß sehr wohl, dass viele Filmemacher, bewusst oder unbewusst, genau mit diesem Prinzip des zerstückelten Körpers arbeiten; das betrifft ja nicht nur das Gesicht, es kann auch eine Hand oder ein anderer Körperteil sein, aber natürlich ist das Gesicht der bevorzugte Teil des zerstückelten Körpers. Ich weiß, dass ich, wenn ich durch den Sucher der Kamera sehe, neige ich immer dazu – und manchmal bereue ich das später –, weiter zurückzugehen. Wenn ich nur das Gesicht sehe, möchte ich auch die Hände sehen; und wenn ich die Hände sehe, will ich auch den Körper sehen. Ich glaube, ja, ich möchte immer den Körper als Ganzes sehen und dann auch sogleich den Körper in seiner Umgebung, die Person oder die Personen, denen gegenüber dieser Körper sich verhält, sich bewegt oder leidet etc.. Das liegt wohl einfach daran, dass ich nicht das Temperament, die Neigung und das Talent habe, Filme zu machen, die auf dem Prinzip der Montage beruhen, sondern solche, die eher durch die Entwicklung und Kontinuität der Ereignisse funktionieren, die ich mehr oder weniger in einen Zusammenhang stelle.«
Der Kern dieses Projekts: eine Étude zur Nouvelle Vague. Lange nach ihrem Ende. Die mimetische Annäherung an eine moderne Klassik. Das selbstbewusste Einschreiben in eine Familiengeschichte. Darüber hinaus auch: Ihr Fortschreiben.
Jacques Rivette: »Ich glaube, die Nouvelle Vague im Film entspricht durchaus dem Impressionismus in der Malerei, in jeder Hinsicht. Einmal ist da der Wunsch nach außen zu gehen. Renoir hat übrigens als erster diesen Vergleich angestellt. Plötzlich der Wunsch, alles unakademischer zu gestalten und sich einen bestimmten Stand der Technik zunutze zu machen. Renoir sagte das und zitierte dabei seinen Vater: Weil es mit einem Mal Farben in Tuben gibt, konnte man rausgehen, konnte man tatsächlich vor Ort, draußen vor dem Motiv malen. Für uns war es genauso. Wir nutzten als erste die hochempfindlichen Filme. Auch den mobilen Ton. Die Nagra kam 1960, 1961 auf den Markt. Darum sind unsere ersten Filme noch nachsynchronisiert. Damals war für den klassischen Ton noch ein Lastwagen nötig. Grauenhaft! Und tatsächlich brachten unsere Filme – ich sage so vermessen ›unsere‹ – also die Filme der Nouvelle Vague, dieselbe Frische mit, sogar in ihren Geschichten, wie der Impressionismus. Ein Vorhaben, den Blick freizumachen, im Gegensatz zu den Studiofilmen, in der Erzählweise als auch vom visuellen Strandpunkt her, in dieser Art eben, das Bild von Überflüssigem zu reinigen.«
Mit seinem allerersten veröffentlichten Text, »Wir sind nicht mehr unschuldig«, hatte Jacques Rivette 1950 seine kinematographischen Claims abgesteckt: »Wir siechen dahin an Asphyxie und rhetorischer Intoxikation. Wir müssen zurück zu einem Kino der ›Transkription aufs Filmmaterial‹: Fixierung eines Universums und seiner konkreten Realitäten, ohne persönliches Eingreifen der todbringenden, ausdörrenden Mechanik hinderlicher Instrumente. (…) Kalt-dokumentarisch filmen; das Universum soll von sich aus leben; die Kamera soll nur mehr Zeuge sein, Auge; (…) Visuelle Trouvaillen kommen pausenlos zum Vorschein, wenn man erst einmal nicht mehr nach ihnen sucht (…) Die Persönlichkeit des Schaffenden äußert sich natürlich in seiner ›Wahl‹ der Kamerawinkel, in seinem Spiel bezüglich der üblichen Rhetorik – insoweit als das, was er zeigen will, sich von einem anonymen Spektakel unterscheidet und, um ganz in Erscheinung zu treten, einen neuen Blick notwendig macht, neugieriger und frei von Vorurteilen, der allein in vollem Umfang Zeugnis davon abzulegen vermag.« Rivettes Thema seither: wie eine Art von Unschuld rückzuerobern ist und wie man Schönheit in Epochen des Manierismus erzeugen kann.
Einmal während eines gemeinsamen Spaziergangs über ein Stück innerstädtischen Ödlands, das beim Dreh von Rivettes Le pont du nord eine Rolle spielte, sagt Daney zu Rivette: »Etwas kehrt häufig wieder in deinen damaligen Kritiken, die Abwehr der Ansicht, dass Film eine Sprache sei.« Und Rivette nimmt den Faden auf: »Nein, Film ist gewiss keine Sprache. Was mich wirklich erstaunt hat, als ich irgendwann einmal die großen Stummfilme sah – nicht die späten Stummfilme, sondern die der Jahre 1915 bis 1920, besonders Griffith und Stiller… Diese Kraft des Blicks auf die Wirklichkeit, die zu jener Zeit noch möglich war, und dann, als habe es einen Zustand der Unschuld gegeben, unwiderruflich verschwunden ist. (…) Je weiter die Filmgeschichte fortschreitet, je mehr Zeit vergeht, desto mehr entfernen wir uns von der Unschuld. Da können wir wohl nur noch den berühmten Satz von Kleist zitieren: ›Um die Unschuld wieder zu finden, muss man den weiten Umweg über das Wissen machen‹. Das ist vermutlich die einzige Möglichkeit.«
Jacques Rivette und Serge Daney vor der Kamera. Austausch zweier Vertrauter. Und eine dritte Vertraute, die die kontrollierten Zufälle dieser Gespräche initiiert und inszeniert hat: Claire Denis. Es ist ein frei verspannter ›Trapez-Aufbau‹. Sein Konstrukteur: André S. Labarthe als Produzent. Öffnung durch Austausch. Und: Respekt vor der Fremde. Spät im Film erzählt die Schauspielerin Bulle Ogier, mit der Rivette sechs Filme gemacht hat. Sie wurde besetzt als Fachfrau: Was Sie schon immer über Jacques Rivette wissen wollten und nie zu fragen wagten. Es muss Überredung gekostet haben, sie zum Mitspielen zu bringen. Es ist zu spüren, dass sie weiß, was man von ihr erwartet und auch, dass sie genau damit hadert. Nicht aus mangelnder Sympathie für den Porträtierten, sondern weil sie es irgendwie ungehörig findet. Sie steht vor der Entscheidung, ob sie sich der Indiskretion schuldig machen soll oder nicht. Sie tut es schließlich nicht – das Fruchtbare der Verweigerung. Jemand, der richtig ausgepackt hätte, wäre kontraproduktiv gewesen.
Über dem ganzen Film liegt der Sound der Stadt Paris. Ein weißes Rauschen. Wie das Knistern einer alten Vinyl-Platte.
Kinky
Eine Erinnerung der Schauspielerin Bernadette Lafont, über die Labarthe 2008 das Fernsehporträt Bernadette Lafont, exactement drehte:
»Aufgefallen ist mir André zum ersten Mal 1966, als ich mit Noël Burch, mit dem ich damals eng befreundet war, Janine Bazin besuchte. Eigentlich kannte ich ihn bereits vorher, aus dem Umfeld der Cahiers, aber nicht persönlich. Ich glaube, ich habe Noël irgendwann einmal gefragt, was dieser Labarthe denn für ein Typ sei. Und Noël Burch, der ja Amerikaner ist, erklärte mir: ›er ist ziemlich kinky‹. Ich hörte dieses Wort damals zum ersten Mal und wollte wissen, was das bedeutete. Noël aber, in seiner enthusiastischen Art versuchte erst gar nicht, mir irgendwas zu erklären, sondern beschrieb, wie er André kennen gelernt hatte: ›Als ich ihm das erste Mal begegnete, landeten wir irgendwann in seiner Küche. Er machte seinen Eisschrank auf, das war mitten im August, und zeigte mir einen Schneeball, den er im vergangenen Dezember gerollt und seither aufgehoben hatte. Siehst Du das ist kinky.‹ Seitdem weiß ich, was kinky bedeutet und dass André S. Labarthe eindeutig kinky ist, was sonst.«
Klammheimlich abgewickelt
Am 9. und 10. Juni 2001 veranstaltet die Cinémathèque Française gemeinsam mit Arte, wo die Reihe nach ORTF und La Sept seit 1992 eine neue Heimat gefunden hatte, eine Hommage für Cinéma, de notre temps. In diesem Zusammenhang sind auch die drei neuesten Folgen der Serie als Vorpremiere angekündigt: erstens ein Film ohne eigenen Titel über Aki Kaurismäki von Guy Girard, zweitens Danièle Huillet, Jean-Marie Straub, cinéastes von Pedro Costa und drittens eine ›Wiederaufbereitung‹ der beiden kurzen Filme über John Ford und Alfred Hitchcock von 1965 (zusammen ausgestrahlt als Hitchcock et Ford: le loup et l’agneau). Zwei Tage nach Ende der Retrospektive erscheint das neue Arte-Programmschema, aus dem Cinéma, de notre temps verschwunden ist. Am 13. Juni erscheint in Le Monde ein Interview mit André S. Labarthe:
»Arte gibt mir keine klare Auskunft. Man hat mir nur gesagt, dass es kein Format mehr gibt, worin man Cinéma, de notre temps unterbringen könnte. Thierry Garrel, der Programmchef, lässt sich nur sehr flau darüber aus, obwohl er gleichzeitig beteuert, dass wir eine Lösung finden werden. Ich glaube, man muss das einfach im Zusammenhang eines völlig bizarren Funktionierens des Fernsehens sehen: man hat schlicht entschieden, dass man das Programmraster nicht mehr nach dem Umfang einer Produktion ausrichten will, sondern dass Formate geschaffen werden, denen sich die Produktionen gefälligst anzupassen haben. Das Problem im Moment besteht schlicht darin, dass unabhängig davon, ob Thierry Garrel in absehbarer Zeit eine Lösung finden wird, sämtliche aktuellen Projekte gestoppt sind, denn wie gesagt: es gibt ja kein Format mehr für die Filme.«
Nach zweijähriger Unterbrechung entsteht 2003 unter dem Label Cinéma, de notre temps noch Abel Ferrara: not Guilty unter der Regie von Rafi Pitts und 2006 Jean-Pierre Limosins Le Home Cinéma des frères Dardenne.
An beiden Filmen ist Labarthe nur noch in beratender Funktion beteiligt.
ASL polymorh
Wofür steht eigentlich das S. in Labarthes Namen? Erstens: es dient dazu, das Pech hinters Licht zu führen. Ohne das S. hätte sein Name nämlich 13 Buchstaben, was ihn zur Zielscheibe für Unglück und Missgeschick machen würde. Zweitens: wollte er in seiner Anfangszeit als Kritiker Verwechslungen vorbeugen, da es einen entfernten Verwandten gab, der auch André hieß, Chefredakteur der Zeitschrift Constellation und Autor populärwissenschaftlicher Bücher (u.a. De la bombe atomique au sérum Bogomolotz, 1951) war. Drittens: macht das S. die Möglichkeit eines Plurals spürbar. Viertens: könnte es auch für Singulär stehen. Fünftens: Für Sylvain jedenfalls, wie gelegentlich zu lesen, steht es nicht. Sechstens: als Hommage für das große S in CinemaScope? Ja, das wäre denkbar.
»Bei Namen ist es wie bei Filmen, sie brauchen ein Gegenüber, damit sie sich in ihrer ganzen polymorphen Fülle realisieren. Versteht sich, dass sie bei jedem neuen Gegenüber ganz neue Assoziationen befördern.«