Filmvermittlung und Cinéphilie: Jean Douchet
Etappen des Filmvermittelnden Films in Frankreich
1. Benoit-Lévy
Wenn es eine Vorgeschichte des Filmvermittelnden Films in Frankreich gibt, dann ist sie mit dem Namen Jean Benoit-Lévy verbunden. Benoit-Lévy, 1888 geboren und 1959 gestorben, verfolgte zwischen den Weltkriegen die Utopie eines »cinéma éducateur« und erkannte die zahlreichen Möglichkeiten, Filmbilder in pädagogischen Zusammenhängen zu verwenden. Aus diesem Impuls heraus drehte er annäherend 300 meist kurze Filme, die sowohl zum Einsatz in Schulen als auch zur allgemeineren Volksbildung gedacht waren und genutzt wurden. Auftraggeber war das Ministerium für Erziehung, aber auch die Ministerien für Gesundheit oder Landwirtschaft bestellten Filme bei ihm. Lehrfilme über die Hygiene und Krankheiten, über Chirurgie, über Berufsbilder und Handwerkstechniken, aber auch allgemeinere Montagefilme wie Poesie du travail. Doigts d’ouvrières, mains de fées (1928).
[1] | Valérie Vignaux: Jean-Benoit-Lévy ou le corps comme utopie. Une histoire du cinéma éducateur dans l’entre-deux-guerres en France, Paris: AFRHC 2007. Mit einer DVD, die einige Filme Benoit-Lévys enthält. |
[2] | Vgl. auch Valérie Vignaux: Eine Encyclopédie der Leinwand. Der institutionelle Diskurs des Kinos im Frankreich der Zwischenkriegszeit und die Filme von Jean Benoit–Lévy (1922–1939), in: montage/av 15/1/2006, Themenheft Gebrauchsfilm (2). |
Teils entstehen diese Filme in enger Zusammenarbeit mit Filmemachern wie Jean und Marie Epstein (so der biographische Film Pasteur von 1922 oder Maternité von 1929), teils erinnern sie an die poetischen Tierstudien Jean Painlevés. [2] Das Kino ist in Benoit-Lévys Filmen pädagogisches Werkzeug, noch nicht Gegenstand der Betrachtung. Analysiert und vermittelt werden wie im Kulturfilm Handwerke, Techniken, Lebensweisen oder Verhaltensnormen. Aber sein umfangreiches Werk – kürzlich aufgearbeitet von Valérie Vignaux [1] – zeigt eine frühe Verbindung zwischen Pädagogik und Kino, die in keinem anderen Land so eng ist wie in Frankreich. Um die didaktischen Qualitäten der Kulturtechnik Kino auf das Kino selbst anzuwenden, musste nach der Cinéphilie der 20er Jahre, die der Nachkriegsgeneration hinzukommen, die sich ihre Filmbildung nicht in der Schule sondern in der Cinémathèque francaise aneignete. (Nebenbei bemerkt: Henri Langlois’ Eltern wohnten gegenüber von Benoit-Lévy, Mitte der 30er Jahre hatten Langlois und Benoit-Lévy auch persönlich miteinander zu tun.)
2. Jean Douchet
Jean Douchet, Kritiker, Enthusiast, Filmemacher, Schauspieler, Filmdenker (Beiname in Frankreich: »Le Socrate du cinéma«), ist 1929 geboren. Er gehört zur Generation der Nachkriegscinéphilen, schreibt ab 1950 in der Gazette du Cinéma, ab 1957 in den Cahiers du cinéma. Anders als seine Freunde und Kritikerkollegen Godard und Truffaut hat er weniger starke Ambitionen, die Seite zu wechseln und zum Regisseur zu werden. Zwar dreht auch er 1965 neben Jean Rouch, Godard, Truffaut, Rohmer, Jean-Daniel Pollet und Chabrol einen Kurzfilm zu Barbet Schroeders Paris vu par Gemeinschaftsfilm, aber dieser Ausflug in das Metier des Regisseurs bleibt die Ausnahme. Allerdings ist Douchet bereits seit den 60er Jahren in unterschiedlich starkem Maße in filmvermittelnde Projekte eingebunden, die zumindest implizit an Benoit-Levys Pionierarbeit der 20er und 30er Jahre anschließen.
3. Télévision scolaire (TV / 60er und 70er Jahre)
[3] | Beilage zur Zeitschrift Cinéma | 09. revue semestrielle d’esthétique et d’histoire du cinéma, Frühjahr 2005. Darin auch der Text »Rohmer éducateur« von Pierre Léon (S. 21-31). |
Gemeinsam mit Regisseuren wie Jean Eustache und Eric Rohmer beteiligt sich Jean Douchet in den 60er und 70er Jahren an Sendungen für das französische Schulfernsehen (Télévision Scolaire). Ich weiß nicht viel über diese Phase, kenne einzelne Sendungen aus diesem Kontext, die vor allem Renoir und die Lumière-Filme zum Gegenstand haben. Einige von Eric Rohmers Arbeiten, allerdings zu Mallarmé und Victor Hugo, sind vor einigen Jahren auf DVD erschienen. [3] Aus Gesprächen heraus stellt es sich mir so dar, dass – anders noch als zu Zeiten Benoit-Lévys – das Kino nicht mehr nur als Lehrmittel, sondern auch als zu vermittelnder Gegenstand von den Bildungseinrichtungen erkannt worden war. Unter Umständen spielen dabei auch die internationale Wahrnehmung der Nouvelle Vague und das Renommee, das Henri Langlois mit der Cinémathèque in der Filmwelt angesammelt hatte eine entscheidende Rolle. (Unklar ist mir, welche Rolle die französische Filmwissenschaft in diesem Prozess hatte, die unter dem Namen »Filmologie« und mit Namen wie Etienne Souriau und Albert Michotte van den Berck in den 40er und 50er Jahren existierte. Douchet, kann man lesen, hat nicht nur bei Gaston Bachelard und Maurice Merleau-Ponty, sondern auch bei Souriau studiert.) An den Sendungen des Schulfernsehens, etwa der über Renoirs Boudu sauvé des eaux nimmt Jean Douchet als Gesprächspartner teil. Im Post-Face à BOUDU SAUVÉ DES EAUX, einer Folge der Serie Aller au cinéma sieht man ihn entspannt rauchend im Kino sitzen. Anzug, Krawatte, die Beine übereinandergeschlagen. Auf dem Sitz neben ihm (ein etwas abrupter Kameraschwenk bringt ihn ins Bild) sitzt Eric Rohmer mit Spitzbart und akkurater Kleidung. »Man hat Lust, über alles gleichzeitig zu sprechen bei Renoir«, beginnt Rohmer, und tatsächlich geht es, unterbrochen ab und zu durch Ausschnitte aus Renoirs Film, um alles Mögliche. Um die Einschätzung der Hauptfigur, des von Michel Simon gespielten Streuners Boudu, aber auch um analytische Fragen wie die Konstruktion des Films und den Stil Renoirs. Wie in der gesamten Serie Aller au cinéma wird hier zweierlei gezeigt. Erstens: Film ist ein ebenso ernstzunehmender Unterrichtsgegenstand wie Malerei oder Literatur. Und zweitens: Das Kino, das im cinéphilen Mythos eher die Antithese zum Klassenzimmer darstellt (Antoine Doinel und sein Freund gehen in Les 400 coups ins Kino anstatt zur Schule) kann ein Ort des Lernens und der Vermittlung sein. Dass eine Clique von Cinéphilen in dieser Zeit einen Teil des Schulfernsehens gestalten konnte, ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass der Leiter der Institution (dem Vorläufer des heutigen »Centre National de la documentation pédagogique« (CNDP) ein Absolvent der Filmhochschule war. Douchet im Rückblick: »Andere haben das als staatlich gefördertes Amusement für Spinner angesehen.«
4. Image par Image (VHS / 80er Jahre)
Gedreht auf Celluloid, aber mit den Ziel, als VHS-Kassetten in Schulen und anderen Bildungszusammenhängen eingesetzt zu werden, entstehen ab Mitte der 80er Jahre fünf ca. 40-minütige Analysen. Dochet konzipiert diese Analysen gemeinsam mit Studierenden an der Filmhochschule IDHEC (später: FEMIS), die – je nach Analyse in unterschiedlichem Maße – für die technische Umsetzung zuständig sind, aber auch eigene Ideen mit einbringen. »Im Normalfall stellte ich meinen Kommentartext für die Analyse zur Verfügung. Die Regisseure haben damit im Prinzip gemacht, was sie wollten. Sie haben entschieden, wie die Bilder dazu organisiert wurden.« In den Analysen von M, La règle du jeu oder Citizen Kane kommt ein ganzes Arsenal von Techniken zum Einsatz, um die Bild- und Regieentscheidungen von Lang, Renoir und Welles mit den Möglichkeiten von Film und Video zu veranschaulichen. Eine Reihe von Einzelbildern fächert Langs einführende Kamerafahrt in ein räumliches Bild auf, eine Skizze neben dem verkleinerten Filmbild zeigt, wie sich die Kamera in Renois komplizierten Sequenzeinstellungen bewegt, vertikale Striche verdeutlichen ein kompositorisches Prinzip. Die meisten dieser Analysen gewinnen ihre Genauigkeit und Überzeugungskraft auch dadurch, dass ein kurzes Segment im Zentrum der Analyse steht. Zu diesem Zentrum kehrt die Analyse immer wieder zurück, aus ihr heraus entfaltet sich der Zusammenhang des Gesamtfilms. Die Image par Image-Serie, von denen die Folgen zu den drei genannten Filmen auch als Bonusmaterial französischer DVD-Releases wiederveröffent wurden, arbeiten mit ausführlichen Off-Kommentaren. Es wird viel erläutert, gesetzt, von außen an den Film herangetragen. Man kann das als starke lenkende Gesten interpretieren und als didaktische Bevormundung auffassen. Aber zugleich ist Image par Image so reich an visuellen Ideen, dass die Dominanz der Sprache durch die Eigengesetzlichkeit des Bildes konterkariert wird.
5. Bonusmaterial (DVD / 2000 ff.)
In einem Gespräch mit Emmanuel Burdeau und Thierry Lounas beschreibt Douchet, wie sehr ihm das Medium DVD entgegengekommen sei. »Ich habe die VHS-Kassetten gehasst. In zwanzig Jahren habe ich nie mehr als 30 oder 35 besessen. Auch die Laser Disc gefiel mir nicht besser, da habe ich nur eine einzige gekauft. Das war nicht gut, das habe ich gespürt. Aber sobald die DVD auftauchte, wusste ich, dass sie geradezu für mich gemacht war. Wahrscheinlich geht auch das vorüber. Eines Tages – bald? – wird es eine noch bessere Technologie geben. Aber im Augenblick ist die DVD ideal. Ich kenne keinerlei Fetischismus für das Filmmaterial, auch wenn ich es liebe, seinen Geruch einzuatmen und es zu manipulieren. Ein Trägermaterial ist nichts weiter als ein Trägermaterial. Und selbst wenn ich weiterhin überzeugt davon bin, dass ein Film zunächst in seinem wirklichen Format und im Kino gesehen werden sollte, finde ich die DVD ein wunderbares Werkzeug. Bei großen Filmemachern sollte sie das Äquivalent zur Pléiade sein: Das Gesamtwerk, ediert und analysiert. Aus finanziellen Gründen ist eine solche Forderung noch unerfüllt, aber schließlich wird sie wahrscheinlich von den Universitäten umgesetzt werden.« Es ergänzt diese Einschätzung, dass Douchet sich in den letzten zehn Jahren immer wieder mit kritischen Beiträgen an DVD-Editionen beteiligt hat. Einerseits ist er gefragt als lebendiges Archiv des Kinos, in dem sich 60 Jahre Filmgeschichte sedimentiert haben. Immer wieder gibt es daher Gesprächsbeiträge und Interviews mit ihm auf DVDs von französischen Anbietern wie Carlotta, Éditions Montparnasse oder MK2. Vor allem aber hat er inzwischen ca. 35 analytische Filme gemacht, die an die Vorarbeiten von Image par Image anschließen. Auch hier – etwa in der Analyse von Sam Fullers Forty Guns – beginnt Douchet am Anfang. »So fange ich meine Analyse an, ungefähr wissend, was ich sagen will, schon auch mit der kleinen Marotte, so weit wie möglich vom Filmanfang auszugehen, vorzugsweise schon vom Vorspann, wenn der diese Bezeichung verdient. Das ist die Basis aller meiner Analysen, denn ich finde, dass die Handschrift eines Films, sein Sinn, seine Richtung hier schon anwesend sind.«