Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala
»Mossafer« (»The Passenger«) – ein Film von Abbas Kiarostami (Iran 1974)
Dialogtext aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«
gesprochen von Ariane Ascaride und Jean-Pierre Darroussin
Ariane Ascaride Glaubst du, dass das Kind bei der Aufnahme wirklich geschlagen wurde?
Jean-Pierre Darroussin Ja, ich habe wirklich den Eindruck. Nicht nur wegen des Geräuschs; das hätte man auch beim Abmischen hinzufügen können. Das Bild hingegen ist viel schwerer zu simulieren. Besonders die Reaktionen des Kindes, der Schmerz, das Weinen. Ich habe den Eindruck, das sind wirkliche Stockschläge.
Ariane Ascaride Findest du das nicht hart?
Jean-Pierre Darroussin Genau diese Härte soll die Szene den Zuschauern vermitteln. Wäre sie gestellt, wäre die Wirkung schwächer.
Ariane Ascaride Aber Moment, dieses Prinzip kann man weit treiben. Du überraschst mich.
Jean-Pierre Darroussin Das ist eine bewusste Wahl. Für Kiarostami ist das Wichtige die Auffassung, die im Iran über die Prügelstrafe herrscht. Dort wird das als normal angesehen. Er hat noch einen Film darüber gemacht, Devoirs du soir.
Ariane Ascaride Und dafür ist er bereit, ein Kind vor der Kamera schlagen zu lassen?
Jean-Pierre Darroussin Das ist ein kleines Leiden, das stellvertretend für das große alltägliche und unsichtbare Leiden. Dieses Leiden sichtbar zu machen ist eine wichtige Aufgabe des Films.
Ariane Ascaride Ich bin nicht einverstanden. Nicht mal ein Tier lässt man für einen Film leiden, und ein Kind...
Jean-Pierre Darroussin Das stimmt, es steckt schon etwas Brutalität darin. Aber weißt du, gute Filme werden nicht zwangsläufig mit guten Gefühlen gemacht. Es gab immer beides im Kino: die Filmemacher, die glauben, dass alles simuliert sein muss, dass der Schauspieler geschützt werden muss. Und jene, die Glauben, dass man nicht das Recht hat, das Leiden zu simulieren, dass die Schauspieler wirklich leiden müssen, wenn man etwas realistisch zeigen will.
Ariane Ascaride Also, dann bin auf Seiten der ersten.
Jean-Pierre Darroussin Siehst du, im Hintergrund? Für mich ist das Brutalste an dieser Einstellung, was sie über die Beziehung zwischen dem Sohn und seiner Mutter erzählt. Sie hat den Direktor der Schule gebeten ihn zu schlagen, weil er Geld geklaut hat, und er denunziert seine Mutter als Lügnerin. Es herrschen nur Misstrauen und Denunziation zwischen den beiden. Man fühlt keine Liebe mehr. Nur noch Machtbeziehungen.
Ariane Ascaride Hat er das Geld denn wirklich gestohlen?
Jean-Pierre Darroussin Ja, weil er eine große Leidenschaft hat: Fußball. Er will unbedingt ein Spiel in Teheran sehen. Das ist so eine fixe Idee von ihm. Er will um jeden Preis das Ticket für die Reise und die Eintrittskarte kaufen. Dafür ist er bereit, alles zu tun.
Ariane Ascaride Also lügt er wirklich seine Mutter an und erzählt Unsinn?
Jean-Pierre Darroussin Ja, er steht zwischen den Stühlen. Und jetzt versucht er, da wieder raus zu kommen. Ich glaube Kiarostami ist letztlich auf seiner Seite. Statt eines unterdrückten Jungen bevorzugt er einen, der bereit ist, für seinen Traum zu kämpfen. Bis zum Ende für seine Leidenschaft zu gehen. Hast du gesehen? Selbst während der Schläge bleibt er standhaft. Das ist seine Art, sich zu retten. Wie alle Personen bei Kiarostami rettet auch er sich durch eine fixe Idee.
Ariane Ascaride Das Schreckliche daran ist, dass wir im Bild genau sehen, wie der Junge vollkommen zwischen seiner Mutter und dem Direktor gefangen ist. Ihr wendet er den Rücken zu. Und sie sieht weg, als ob sie nicht sehen will, was der Direktor mit ihm macht. Dabei hat sie ja um die Prügelstrafe gebeten.
Jean-Pierre Darroussin Die Einstellung ist wie ein Spielbrett arrangiert, aus starren Rechtecken. Aus der Aufsicht sähe das aus wie eine Einstellung von Mondrian. Jede Person ist in ihrem Kästchen, getrennt von den anderen. Wie durch die Trennwände eines Labyrinths.
Ariane Ascaride Das Komische daran ist dieses Rechteck auf dem Flur. Wir bemerken erst, dass dort ein Spiegel hängt, als der erste Schüler vorbeigeht.
Jean-Pierre Darroussin Glaubst du das ist so eine Art Rückspiegel für den Direktor? Damit er alles sieht, auch das, was sich auf dem Flur abspielt? Ein Machtinstrument?
Ariane Ascaride Ich dachte eher, dass die Schüler sich ein letztes Mal im Spiegel betrachten, bevor vor das Gesetz treten müssen. Dabei wirkt der Direktor am Anfang nicht einmal sehr böse. Eher mild und ein bisschen müde.
Jean-Pierre Darroussin Stimmt, er wirkt nicht besonders sadistisch. Er schlägt die Kinder, weil das seine Funktion ist, er wirkt eher nüchtern. Diese Entscheidung Kiarostamis macht die Szene aber noch stärker. Sie normalisiert die Gewalt in der Schule: Der Lehrer muss nicht einmal sadistisch sein. Die Gewohnheit reicht schon aus.
Ariane Ascaride Und dieser Schlagstock ist wesentlicher Teil seiner Funktion. Er liegt genau an seinem Platz neben der Hand auf dem Schreibtisch, dort wo sich zwangsläufig die Schüler vorstellen, die in den Raum kommen.
Jean-Pierre Darroussin Man sieht sehr gut, dass es für ihn ein Ritual ist. Er hat Spaß daran, das alles in Szene zu setzen. Er beginnt die Befragung ganz ruhig im Sitzen, dann steht er auf und bedroht den Jungen zunächst verbal, um sich in Stimmung zu bringen.
Ariane Ascaride Als ob er zunächst die Lust auskosten will, bevor er den Schlagstock zu Hand nimmt...
Jean-Pierre Darroussin Er ist sehr eifrig in der Inszenierung seines Schreckens. Hast du gesehen, wie gut er den Raum in den Rahmen einbaut? Es ist wie bei einem Ritual, wo alles an genau seinem Platz sein muss. Seine Macht besteht darin, die Bestrafung in Szene zu setzen, sich eine Distanz zu verschaffen.
Ariane Ascaride Am Anfang zwingt er den Jungen, sich zu nähern, bis dieser den Schreibtisch berührt, wo der Schlagstock liegt. Einmal berührt er seine Hand, das wirkt nahezu zärtlich. Wie eine liebevolle Geste. Aber zugleich ist das genau das Körperteil, von dem er weiß, dass er einen Moment später drauf schlagen wird. Diese Milde jagt mir einen Schauer über den Rücken.
Jean-Pierre Darroussin Während der Bestrafung wirkt er wirklich wie ein Regisseur, der die richtige Position des Schauspielers sucht. An einer Stelle, schau mal, rückt er den Jungen beiseite, um ihn an die richtige Stelle zu setzen. Genau gerahmt von der halboffenen Tür.
Ariane Ascaride Man hat den Eindruck, dass es dem Direktor wichtig ist, dass der Junge an seiner eigenen Bestrafung teilnimmt. Indem er seine Rolle richtig spielt. Indem er die richtige Pose einnimmt, als ob er Teil eines tableaux vivant wäre. Das ist der wirkliche Sadismus in seiner Macht. Es ist wichtig, dass der andere einsieht, seine Opferrolle zu spielen. Findest du nicht, dass es so wirkt, als würde das dem Regisseur ein bisschen zu viel Spaß machen?
Jean-Pierre Darroussin Das ist genau das, was diese Einstellung aussagt. In der Macht des Regisseurs und der des Direktors liegt gleichermaßen Brutalität. In jeder Einstellung geht es auch darum, die Macht einzusetzen. Ich glaube Kiarostami bildet da keine Ausnahme. Er weiß es. Als Regisseur ist er zugleich ein bisschen in der Position des Direktors.