Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala

»Moonfleet« (»Das Schloss im Schatten«)– ein Film von Fritz Lang (USA 1955)
Dialogtext aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«

Michel Piccoli In Zeitlupe wirkt diese Einstellung wie ein Traum.

Fanny Ardant Ich würde eher sagen: Wie ein Albtraum

Michel Piccoli Es geht vom einen zum anderen über. Es beginnt wie ein Traum und endet als Albtraum. Am Anfang geht Jeremy Fox vorüber wie eine fantastische Verkörperung der Vater-Sehnsucht des kleinen John. Erst danach verwandelt sich der Traum in einen Albtraum, als Fox auf die Rufe des Jungen nicht antwortet. Als ob er ihn gar nicht hört.

Fanny Ardant Ja, so wie man im Traum schreit und gleichzeitig weiß, dass kein Laut aus der Kehle dringt. Die anderen werden uns nicht hören.

Michel Piccoli Dann schließt sich die Tür über dem Sehnsuchtsbild, das Fenster öffnet sich und lässt den Sturmwind herein: Der Traum wird zum Albtraum.

Fanny Ardant Aber was stellt der Mann wirklich für den Jungen dar?

Michel Piccoli Er ist ein Gesetzloser, der Anführer der Schmugglerbande an einem verlassenen Ort, an einer wilden Küste. Der Junge ist gerade in diesem Dorf angekommen. Er kennt das Dorf nicht. Es ist der Geburtsort seiner Mutter. Bevor sie starb, bat sie ihn, jenen Mann zu finden, den sie in früheren Zeiten geliebt hat, und sich ihm anzuvertrauen. Aber wir werden niemals erfahren, ob Jeremy Fox wirklich Johns Vater ist. Jedenfalls träumt der kleine John davon, ihn zum Vater zu haben.

Fanny Ardant Und der Mann?

Michel Piccoli Der widersetzt sich den ganzen Film hindurch der Vater-Sehnsucht des Jungen.

Fanny Ardant Dann ist diese Einstellung wie ein prophetischer Traum?

Michel Piccoli Am Anfang ähnelt sie einem solchen Traum. John sieht einen verführerischen Traum-Vater vorübergehen, mit weißem Hemd, mit glänzenden Stiefeln, in seiner ganzen Stattlichkeit. Aber dieser Vater hört ihn nicht. Als ob der kleine Junge für ihn gar nicht existierte. Dann schließt sich die Tür vor diesem Idealbild, ganz von alleine und sehr rasch.

Fanny Ardant Ja, das ist eine majestätische Vaterfigur. Er wirft zwei Schatten, siehst du? Ein Schatten kündigt ihn an, noch bevor er im Lichterrahmen erscheint. Ein zweiter folgt ihm wie eine Schleppe, nachdem er das Bildfeld wieder verlassen hat. Er ist wie eine Erscheinung, wie eine Ahnung.

Michel Piccoli Er wird in einem Zwischenraum festgehalten, Lichtkörper zwischen zwei schwarzen Löchern: aus dem einen taucht er auf, in dem anderen verschwindet er. Er ist ungreifbar. Ein Bild. Lang inszeniert ihn wie ein Sehnsuchtsobjekt, nicht wie ein echtes Wesen. Das Trugbild von einem Vater.

Fanny Ardant Ist dir die Präzision aufgefallen, nachdem sich die Tür schließt? Schau, das ist fantastisch: Gleich nachdem die Tür ganz geschlossen ist, kommt der Vorhang ins Bild.

Michel Piccoli Das ist großartig! Der Vorhang legt einen Schleier zwischen Kamera und Zimmer. In Zeitlupe wirkt das noch magischer. Man könnte meinen, das sei kein Stoff mehr, eher eine durchscheinende Materie, wie Milchglas.

Fanny Ardant Was dem Vorhang diese Magie verleiht, ist das Licht. Wenn der Vorhang sich aufbläht, dann fängt er ein unwirkliches Licht ein, das bis dahin unsichtbar war, weil es auf keinen Gegenstand fiel. Der Scheinwerfer wartet sozusagen auf den Vorhang, gerichtet auf eine leere Stelle, in die der Vorhang hineinweht. Es ist dieses Licht, das dem Vorhang seine durchscheinende Stofflichkeit verleiht.

Michel Piccoli Das erinnert mich an einen anderen Film von Fritz Lang, wo die Hauptfigur von einem Fenstervorhang erwürgt wird. Ich erinnere eine Treppe und wie in dieser Einstellung weht ein Wind, der Vorhang wickelt sich um den Hals des Helden und reißt ihn das Treppenhaus hinab.

Fanny Ardant Ja, den kenne ich: Die Hauptfigur ist ein schriftstellernder Mörder, der seine Haushaltshilfe erwürgt hat. Der Film heißt House by the river.

Michel Piccoli Genau: »Das Todeshaus am Fluss«, sehr düster und großartig.

Fanny Ardant Ja. Schau, wie er die Vorhänge einsetzt: ein bisschen expressionistisch, und auch angsteinflößend.

Michel Piccoli Man muss sagen: Die Vorhänge sind Traumlichtfänger. Und das ist so plastisch, ein gut ausgeleuchteter Vorhang, bewegtes Gewebe.

Fanny Ardant Wie haben die das gemacht, dass der Vorhang nicht das ganze Bild verstellt?Es bleibt immer eine unbedeckte dreieckige Fläche, damit wir weiterhin John sehen können.

Michel Piccoli Die haben die Windmaschine eher tief aufgestellt. Ich denke, da war auch viel Zufall im Spiel, was das Verdeckte und das Gezeigte angeht. Ein flatternder Vorhang ist schwer zu kontrollieren. Die haben die Aufnahme wahrscheinlich so oft gedreht, bis der Vorhang diese Stelle einmal freigelassen hat.

Fanny Ardant Jedenfalls wirkt das in dieser Aufnahme wirklich magisch!

Michel Piccoli Und hast du auch die Kerze beachtet? Sobald sich das Fenster öffnet und der Vorhang weht, bläst der Luftzug die Flamme aus. Pass auf, was dann passiert: Wenn der Vorhang wieder zurückfällt, belebt sich die Flamme wieder.

Fanny Ardant Großartig! Das Flackern der Flamme wird gleichzeitig vom Vorhang eingefangen. Ein wenig wie das Herzklopfen des kleinen John, hin- und hergerissen zwischen lebhaftesten Gefühlen, all das in einer Einstellung.

Michel Piccoli Und genau an dieser Stelle verwandelt sich die Szene für ihn in einen Albtraum: als er das Fenster zu schließen versucht, um die Sicherheit zu bewahren, die er in dem Dorf finden will, im Haus seiner Mutter und seiner Vorfahren, und den väterlichen Schutz. Das im Sturm sich öffnende Fenster gefährdet all das wieder: das Bild des Vaters, die Geborgenheit eines Heims.

Fanny Ardant Ja, das Ende der Einstellung ist anrührend, wie er sich gegen das Fenster stemmt, um es gegen all diese Bedrohungen zu schließen. Er möchte seinen Traum beschützen, aber es gelingt ihm nicht. Seine Muskeln sind zu schwach. Er ist zu klein.

Filmografie

Le cinéma, une histoire de plans