Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala
»Ladri di biciclette« (»Fahrraddiebe«) – ein Film von Vittorio de Sica (I 1948)
Dialogtext aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«
gesprochen von Anna Karina und Tchecky Karyo
Anna Karina Auf den ersten Blick könnte das eine Einstellung aus einem rein dokumentarischen Film sein. Diese arbeitenden Männer. Die Einstellung wirkt überhaupt nicht inszeniert.
Tchecky Karyo Aber trotzdem ist bereits sehr viel Organisation erkennbar. Ich finde das gar nicht so dokumentarisch. Sieht du: es beginnt mit einem einzelnen Fahrrad, gut sichtbar, gut auszumachen. Ein Objekt, das eine Identität hat, eine Einheit. Dies wird bald durcheinandergeraten. In wenigen Sekunden werden sich die Fahrräder vermehren wie bei einer Mehrfachbelichtung. So, als zeigte dir ein Zauberer eine Spielkarte, die er dann zurück in den Stapel steckt, die Karten ganz schnell mischt und dich dann fragt, wo sie abgeblieben ist. Du bist nicht in der Lage, sie wieder zu finden.
Anna Karina Du glaubst also, das soll uns fühlen lassen, dass sie das berühmte Fahrrad nie wieder finden werden, das dem Vater gestohlen wurde?
Tchecky Karyo Das geschieht auf zwei Zeitebenen. Wenn du ein bisschen vorspulst zu der Stelle, wo die Schauspieler hinter dem Stand entlang gehen: Jetzt ist nicht mehr die Multiplikation der Fahrräder das Beunruhigende. Es ist eher ihre Erscheinungsweise, wenn ich so sagen kann. Zwischen all diesen Einzelteilen wird die Idee, ein einziges Fahrrad wiederzufinden völlig absurd. Du kannst vielleicht noch die Hoffnung haben, ein Fahrrad unter tausend anderen wiederzufinden, wenn du geduldig bist. Aber du kannst kein Objekt wiederfinden, das gar nicht mehr als Objekt existiert. Das in seine Einzelteile zerlegt wurde. Sie stehen da vor Bergen von Reifen, Klingeln und Rückspiegeln. Das was sie suchen, hat die Form verändert. Das Objekt »Fahrrad« hat sich in Luft aufgelöst. Für Ricci ist das tragisch, das sieht man an der Not in seinen Augen.
Anna Karina Das wurde aber doch auf einem richtigen Markt gedreht, oder?
Tchecky Karyo Ganz bestimmt, aber sicher nicht auf die Schnelle.
Anna Karina Trotzdem, diese Marktleute, die Passanten, die Kerle, die die großen LKW-Reifen rollen, all das macht doch einen ganz echten Eindruck. Die Bewegtheit, die Unordnung. Die Leute wirken nicht wie Statisten, die von einem Assistenten angewiesen werden. Man sieht doch, dass es ein echter Platz ist.
Tchecky Karyo Ja, aber als Einstellung ist es doch sehr arrangiert.
Anna Karina Sagst du das wegen der Kamerafahrt?
Tchecky Karyo Es war damals sicher sehr schwer das zu arrangieren. Auch auf einem richtigen Markt. Die Bewegung ist sehr konzentriert. Der Kameramann beginnt mit einer festen Einstellung. Dann bewegt er sich nach rechts, um der Gruppe zu folgen, die ins Bild tritt. Anschließend folgt er ihnen seitwärts, wenn sie hinter den Ständen mit den Einzelteilen entlang gehen. Dann stoppt er für eine feste Einstellung auf die kurze Unterhaltung; da sind alle gut zu sehen. Die Darsteller füllen das Bild, jeder ist genau an seiner Stelle, der Kamera zugewandt. Und dann beginnt die Kamerafahrt in umgekehrter Richtung, um den kleinen Bruno zu begleiten, bis zu seiner Schlussposition zwischen den beiden argwöhnischen Verkäufern. Man benötigt eine ziemliche Präzision für die Einstellungen und eine Genauigkeit bei der Kamerafahrt – genau im richtigen Moment abzufahren und anzuhalten.
Anna Karina Am Ende, hast du gesehen? Es ist so arrangiert, dass man im Hintergrund immer noch den Vater sieht. Obwohl der Vordergrund schon ziemlich voll ist. Der voll bepackte Stand, die drei Personen. Aber sie lassen eine kleine Lücke für den Vater, damit man ihn nicht aus dem Blick verliert. Es ist unser Blick, der die Verbindung zwischen Vater und Sohn herstellt. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie lässt mich das an einen Western denken. Diese Gruppe von Männern, die so wirken, als würden sie unbekanntes Terrain erobern.
Tchecky Karyo Stimmt, nur dass nicht die Wüste das beunruhigende ist. Es sind die Bewegtheit und die Menge.
Anna Karina Wenn sie sich vor unseren Augen organisieren, die Fünf dort, wirkt das wie ein Kommando, das eine militärische Mission plant.
Tchecky Karyo Der Dicke da macht ein bisschen zu viel in seiner Rolle als Chef. Hast du nicht das Gefühl, dass de Sica sich ein wenig über ihn lustig macht, auf nette Art und Weise? Über seine italienische Art, ein bisschen angeberisch, sich so derart ernst zu nehmen, als Kopf dieser Gruppe von Männern?
Anna Karina Man muss schon sagen, dass seine Truppe schon ganz speziell ist. Mit dem kleinen mageren Typen zum Anfang der Einstellung. Man sieht ihn fast nicht, denn er ist versteckt hinter Ricci. Der sieht aus, als käme er direkt aus einem Film von Fellini. Mit dem Dicken zusammen hat das etwas von Laurel und Hardy.
Tchecky Karyo Man vergisst oft de Sicas Humor, einen süß-sauren und ganz eigenen Humor. Dennoch ist der Moment tragisch. Wenn sie das Fahrrad nicht wiederfinden, verliert Ricci seine einzige Chance auf Arbeit nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit, er verliert seine Würde, er verliert seine Identität, er verliert alles.
Anna Karina Das macht sich ja ganz deutlich bemerkbar. Er spielt nicht wie die anderen. Er macht ein wenig den Eindruck, als stünde er neben sich. Findest du es nicht etwas komisch, dass im Moment der Unterredung alle das Kind anschauen, als sei es eine Art Retter in der Not?
Tchecky Karyo Ja, auf der einen Seite ist das ganz falsch, aber andererseits auch genau richtig. Von Beginn an – auch wenn sie Geschichten erzählen – müssen sie doch genau wie der Zuschauer merken, dass es ganz unmöglich ist, das Fahrrad wiederzufinden. Das sieht man doch auf den ersten Blick. Deshalb ist die Anwesenheit des Kindes so wichtig. Durch das Kind glauben sie weiterhin an das Unmögliche. Gegen allen Anschein. Der Junge eignet sich dazu, sie weiterhin daran glauben zu machen, denn an dem Kind stärken die Erwachsenen ihren Glauben, der schon reichlich erschüttert ist. Sie glauben mit dem Kind.
Anna Karina So wie man sich einen Walt Disney-Film zusammen mit einem Kind ansehen kann, um selbst daran zu glauben.
Tchecky Karyo Ganz genau.
Anna Karina Sind dir die ganzen Händen und Gesten aufgefallen, die in dieser einen Einstellung vorkommen? Warte mal – geh mal zurück zum Anfang.
Tchecky Karyo Es beginnt mit ganz funktionalen, zweckorientierten Gesten. All diese Männer, die mit den Fahrrädern hantieren.
Anna Karina Stimmt, es gibt keine einzige Frau in dieser Einstellung, dabei wimmelt es nur so von Menschen. Ich liebe diese Geste der Männer, die die großen LKW-Reifen mit den Fingerspitzen rollen. Wie Kinder, die mit Reifen spielen. Das wirkt ganz leicht im Verhältnis zu diesen riesigen Reifen.
Tchecky Karyo Sobald die kleine Gruppe ins Blickfeld tritt, gibt es keinen Zweifel mehr. Wir sind in Italien, was die Gesten angeht. Die zwei hinteren begleiten alles was sie sagen, mit sehr theatralischen, überkodierten Gesten. Wir befinden uns in einem einfachen Milieu, in dem man sich nicht davor scheut, mit Händen zu sprechen. Das ist Teil der Kultur. Es ist eine andere Art, um sich Mut zu machen, das zu glauben, was man sagt.
Anna Karina Der Darsteller des Vaters war gar kein Schauspieler. Vielleicht wirkt er deswegen so nüchtern. Er wirkt etwas schlafwandlerisch, fast abwesend. Neben den anderen wirkt er wie aus einem Bresson-Film.
Tchecky Karyo Und hast du die Geste des Händlers gesehen, der die Rückspiegel an seiner Hose abwischt, bevor er sie ausstellt? Wohl damit sie schön glänzen. Das ist ganz flüchtig, aber man glaubt wirklich daran. Das ist wie eine automatische Geste, nicht gespielt.
Anna Karina Die unglaublichste der Gesten ist doch die des Dicken, der die Initiative ergreift, siehst du? Er kann mit niemandem reden, ohne ihn dabei zu berühren. Er wird alle aus der Runde anfassen. Ohne seine Hände kann er kein Wort herausbringen. Am Ende, siehst du, fasst er den Vater am Arm, um ihn fortzuziehen.
Tchecky Karyo Das ist im gleichen Moment wie die einzige Geste von Ricci. Eine sehr schöne Geste, als er das Gesicht seines Sohnes berührt, bevor er weggeht.
Anna Karina Das ist wohl, um seinem Sohn Sicherheit zu geben, aber man sieht auch, dass er sich selbst damit Mut macht.
Tchecky Karyo Brunos Lächeln nach dieser Geste ist wundervoll, vor allem, weil es im Film nicht besonders oft vorkommt.
Anna Karina Die kleine Szene im Anschluss, als er zwischen den Verkäufern herumwühlt, das könnte gut auch ein Stummfilm sein. Man versteht alles, ausschließlich durch die Blicke und Gesten. Bruno wird zum ersten Mal auf die Finger geschlagen. Er lässt sich nicht beirren. Der andere Verkäufer schlägt ihn erneut. Macht dann eine symbolische Geste, die für sich spricht, um ihm zu sagen: Hau jetzt ab!
Tchecky Karyo Ich fand schon immer, dass dieser Junge ein merkwürdiges Gesicht hat. Ein bisschen zu groß im Verhältnis zu seinem Körper. Als wäre er gleichzeitig ein Kind und ein Erwachsener.
Anna Karina Weil er so ein ernstes Gesicht macht, zu ernst für sein Alter. Es ist, als hätte er schon die Unbeschwertheit und die Freude der Kindheit verloren. Vor allem sein Blick zeigt das. Es ist eines dieser Kindergesichter, die schon vom Hunger, vom Krieg oder von Krankheit gezeichnet sind. Denen das Leben die Kindheit gestohlen hat.