Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala
Zitat aus »Kino als Kunst«
Filmvermittelnde Filme und Filmfragmente
Im Folgenden ein längeres Zitat aus Alain Bergalas Essay »Kino als Kunst - Filmvermittlung an der Schule und anderswo«:
Das pädagogische Instrumentarium im Filmunterricht basierte lange auf dem in Frankreich vorherrschenden und sehr alten didaktischen Modell einer »wissenden« Stimme, die die Sequenzen und Einstellungen eines Films entziffert, analysiert und interpretiert. Wenn ein Filmlehrer im Unterricht eine derartige Kassette, eine so genannte Filmanalyse, vorführt, erteilt er einem anerkannten Spezialisten das Wort, der dieses spezielle Thema (den oder den Film, den oder den Autor) und alle Methoden der Filmanalyse beherrscht. Die »wissende« Stimme liefert uns die Resultate einer Analyse, eines Denkens, dessen Voraussetzungen, Entstehung und Mechanismen wir nicht kennen. Meist stützt sich der Vortrag auf »Beweise« in Bild und Ton, d.h. auf Einstellungen, Filmstandbilder und sorgfältig zusammengestellte Filmausschnitte. Solchen Beweisen sollte man jedoch nie trauen, jedenfalls dann nicht, wenn jemand sie anführt, der sein Fach beherrscht und seine Zuhörer auch mit ganz falschen Aussagen gewinnen könnte. Es ließe sich etwa mit geschickt ausgewählten Einstellungen und manchen Anschlüssen in Ausser Atem leicht – und vollkommen wahrheitswidrig – beweisen und mit sichtbaren Beispielen belegen, dass dieser Film sich gewissenhaft an die klassischen Schnittregeln hält.
Diese Art von Didaktik (ein die Bilder überlagernder analysierender oder demonstrierender Vortrag) gehört zu einem Typus von Wissensvermittlung dessen Effizienz und Verdienste unbestritten sind und auf den zu verzichten absurd und unnütz wäre. Um bestimmte Bedürfnisse im Bereich der Filmvermittlung zu befriedigen, bleiben noch genug schöne Analysefilme zu drehen. Wahrscheinlich brauchen wir diese vertikal (vom Wissenden zum den Lernenden) und linear verlaufende Didaktik (ein Vortrag, der abläuft wie eine Vorlesung oder eine Lektion) wie auf der Videokassette noch lange. Aber man kann sich heute auch andere ausdenken.
Die DVD ermöglicht eine weniger didaktische Herangehensweise, die primär darauf basiert, Beziehungen zwischen Filmen oder Filmfragmenten herzustellen. Dabei ist nicht mehr ein Diskurs Träger des Wissens, sondern das Denken entwickelt sich allein aus der Beobachtung dieser vielfältigen Beziehungen und im praktischen Umgang mit der DVD. [...]
Auf der DVD kann man sehr viele Bilder und Klänge speichern und ganz einfach vielfältige Verknüpfungen programmieren, dank denen diese Filmfragmente in ebenso vielfältige »denkende«, zum Nachdenken über das Kino anregende Beziehungen gesetzt werden können.
Schon auf einer Videokassette konnten viele Sequenzen aufgezeichnet werden, aber in unverrückbarer Reihenfolge und mit zwangsläufigen Nachbarschaften. Auf einer normalen DVD können dreißig Ausschnitte durch vorprogrammierte Links in Beziehung gesetzt werden, jeder einzelne ist also Teil eines Geflechts vielfältiger Beziehungen und Verkettungen. Angesichts dieses neuen Instrumentariums ist es heute sehr wichtig, sich klarzumachen was genau das In-Beziehung-Setzen von Filmfragmenten bedeutet. Dann könnte es zu einem der Kernstücke (natürlich sind weitere nötig) einer Pädagogik werden, die sich auf das persönliche Imaginäre, das individuelle Verständnis des Benutzers, ob Schüler oder Lehrer, einstellt. Die kurze Form – Ausschnitt oder Sequenz – hat dabei den Vorzug, das Denken zu beschleunigen: Drei Ausschnitte in Beziehung zu setzen vermittelt manchmal mehr Einsichten als ein langer Vortrag. Und sie eignet sich für Querschnitte: man kann erhellende und faszinierende, ganz unvorhergesehene Beziehungen zwischen Kinoepochen und -ländern, zwischen Filmen und Autoren herstellen, die ein linearer Zugang in hermetisch abgeschotteten Kategorien belassen würde. [...]
Unter diesen Bedingungen können Lehrer und Schüler gemeinsam beobachten, überlegen und versuchen, die Idee, den Grundgedanken ausfindig zu machen, die implizit ja jeder Verkettung zu Grunde liegen. Verstehen lehrt dann nicht unbedingt eine Stimme oder der Text eines Wissenden, auch nicht nur der Lehrer, sondern es wächst beim Hin und Her zwischen den Ausschnitten, die unter bestimmten Umständen, nämlich bei genauer, aufmerksamer Betrachtung, genug Stoff zum Nachdenken liefern. So lässt sich auch pädagogischer Übereifer vermeiden. Je nach Publikum kann man sich verschiedene Nutzungsmöglichkeiten der in Beziehung gesetzten Ausschnitte vorstellen, von der spielerischen bis zur begriffsorientierten, von der poetischen bis zur filmsprachlichen.
[1] | Zitat aus: Alain Bergala: Kino als Kunst. Hrsg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit. Marburg: Schüren 2006. (Lizensierte Ausgabe: Bonn: bpb 2006). S. 82-84. |
Zudem folgt das Denken bei den vielfältigen Verkettungsmöglichkeiten der Ausschnitte nicht unbedingt der in der Informatik vorherrschenden Logik der Baumstruktur. Es kann auch eher rhizomartige Wege nehmen, denn die vorgeschlagenen Verbindungen erfordern nicht zwangsläufig binäre, vertikal gegliederte Entscheidungen. Überdies sind vielfältige, auf unterschiedliche Arten von Intelligenz zugeschnittene Navigationen durch die Ausschnittsammlung vorstellbar. Es öffnen sich also sehr viele freie, nicht hierarchisch gegliederte Wege, um zwischen den Ausschnitten Beziehungen aller Art – analytische, poetische, den Inhalt oder die Form betreffende – zu schaffen. [1]