Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala

Der Kampf mit dem Engel
Kommentartext zur Analyse von »Mes petites amoureuses« von Jean Eustache

Von Alain Bergala

Ein Film von Alain Bergala

Siehst Du, diese Szene hat mich tief berührt, schon beim allerersten Sehen. Immer, wenn ich sie wiedersehe, trifft sie mich mit Unruhe und Ergriffenheit. Sie erzählt nicht nur einen Abschnitt der Geschichte, sondern spricht mich direkt an. Das kann ich nicht von vielen Szenen aus der Filmgeschichte sagen. Es liegt am Film selbst, aber es hat auch mit meiner eigenen Geschichte zu tun; wie bei allen Szenen, die eine dauerhafte Erschütterung und eine etwas maßlose Wirkung auf uns ausüben.

Kurz vorher, im Café »Aux Quatre Fontaines« auf dem kleinen Platz, hat er mit einem angeberischen Erwachsenen zu tun gehabt, der sein Geschick im Geldverdienen dazu nutzte, Frauen zu verführen. Ausgeschlossen aus diesem Universum der Effizienz, geht er nicht wie geplant ins Kino, sondern auf die Kirmes, ins Gebiet der Kindheit. Der Eintritt erfolgt an einer Kasse, wo eine Frau auf einer Schulbank sitzt. Das Licht mit den Sonnenflecken unter den Platanen ist sehr schön. Auch der Ton ist sehr klar, gelöst, kristallin. Während der horizontalen Fahrt entlang den Kirmesständen gleitet er am Universum der Kinderspiele entlang, das für immer verloren ist. Vor ihm die Unsicherheiten der Sexualität und die Ängste vor der Zukunft. Ihm dämmert, dass er davon unwiederbringlich getrennt ist. Dann setzt sich eine Art Fluss in Gang, der ihn vor die Bühne treibt.

Daniel versucht in dieser Szene eine Rückkehr ins Land der Kindheit, jedenfalls glaubt er das. Man kann nicht wieder klein und sorglos werden, aber an diesem Ort, der frei von Trieben scheint, im Reich des Spiels und der Kindheit, wartet eine Herausforderung, bei der er alles mit sich selbst austragen muss. Er wird sich neben einer kleinen Zuschauerin wiederfinden und ihre Hüfte streifen. Daniel weiß sehr wohl, dass seine Geste auf nichts Reales abzielt; das Mädchen ist viel zu jung, zu klein und in der Obhut ihrer Oma. Er zielt auf keinerlei Erfüllung in der Wirklichkeit ab. Er weiß genau, dass er nichts mit diesem zu kleinen Mädchen anfangen wird. Hat er überhaupt Lust dazu? Ich bin fast sicher, dass dies nicht der Fall ist. Es geht um etwas anderes.

Sein kühner Vorstoß zwischen all den wachsamen Müttern hat kein anderes Ziel als das, sich selbst zu beweisen. Daniel konfrontiert sich mit sich selbst und seiner Angst, mit der erotischen Spannung und der unmotivierten Gefahr. Hier, auf dieser Kindheits-Insel, begleitet vom Chor der Mädchen.

Als der Film herauskam, sprach Martin Loeb, der die Rolle des Daniel spielt, über diese Szene: »Bei den Dreharbeiten war jede Geste auf den Zentimeter genau berechnet. Zum Beispiel in der Szene, in der ich die Schenkel des kleinen Mädchens in Weiß streichele, sollte ich einen ganz bestimmten Blick spielen und mit den Augen zwinkern.« Martin Loeb konnte nicht wissen, dass dieser Blick und dieses Augenzwinkern aus einem anderen Film stammten, aus Pickpocket von Robert Bresson.

Die Szene des Films von Bresson beginnt mit dem Ausspähen. Michel, der Mann, hat noch nie gestohlen, es handelt sich um ein erstes Mal. Am Wettschalter sieht er eine Handtasche voller Geldscheine. Er verfolgt eine Frau, die sie trägt, stellt sich hinter sie, um die Scheine zu stehlen, während ihre Aufmerksamkeit dem Rennen zugewandt ist.

Bei Eustache gibt es keine solche Planung, der Zufall lässt Daniel neben dem jungen Mädchen mit seiner Oma zu stehen kommen. Es ist die kristallklare Stimme des Mädchens, die ihn wie ein Magnet angezogen hat. Für Daniel geht es nicht darum, Geld zu stehlen, sondern darum, in der Öffentlichkeit das Kleid des jungen Mädchens zu streicheln. Aber es kommt auf das Gleiche heraus. In beiden Fällen zählt nicht das Ergebnis, sondern der Kampf mit sich selbst, der Kampf mit dem Engel. Sich selbst beweisen, dass man die Kraft hat, etwas Gefährliches zu tun. Das Risiko eingehen erwischt zu werden. Für den Taschendieb – auch wenn es sich um Geld handelt – liegt auch etwas Sexuelles in der Spannung dieser Szene und der Geste. Eustache tut nichts weiter, als das in den Vordergrund zu holen, was bei Bresson untergründig und verdeckt war. Aber darin liegt keine Verfälschung, es ist im Gegenteil eher wie eine Betonung. Eustache ist so beherrscht von der Szene aus Pickpocket, dass er nichts davon weglassen wird. Weder die Handtasche noch das Geld. Er wird beides lediglich in die Szene davor verschieben, in der der Angeber Daniel seine Brieftasche voller Banknoten zeigt. Die Szene aus Pickpocket teilt sich in MES PETITES AMOUREUSES in zwei Teile. Das Objekt der Begierde (die Banknoten) in der Szene zuvor, und der Affekt, die Spannung der sexuellen Annäherung, in der Szene danach. Aber, siehst du, es fehlt nichts. Er hat lediglich das Objekt vom Affekt getrennt. Die Hüftpartie des Mädchens anstelle der Handtasche mit den Scheinen.

Der Oberkörper und das Gesicht Daniels scheinen nicht zu wissen, was die Hand tut. Bei Bresson lassen sich die Haltung des Körpers und die Großaufnahmen der Hände nur schwer aufeinander beziehen. Schau genau hin: In dieser Stellung könnte seine linke Hand unmöglich die Handtasche berühren. Aber Bresson macht sich über diese Form von Realismus lustig. Ihm ist wichtig, dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, dass die Hand für sich arbeitet, auf eigene Rechnung. Als der Taschendieb den Verschluss der Handtasche aufspringen lässt, zwinkert er mit dem Auge, kurz nach dem Schnitt. Eustache wird dieses Augenzwinkern aufgreifen. Nach der ersten Großaufnahme der Hand, die das Kleid des Mädchens berührt, schneidet er zurück auf Daniel, der die Augen geschlossen hat und sie gleich nach dem Schnitt wieder öffnet. Es gibt einen kleinen Unterschied zwischen den Anfängen beider Einstellungen, aber in beiden Fällen ruft das Augenzwinkern gleich nach dem Schnitt so etwas wie ein Stottern hervor, ein Herzklopfen außer der Reihe. Das Herzklopfen beider Figuren zu dem Zeitpunkt, an dem das Risiko am Größten ist, erwischt zu werden.

Als Eustache diese Szene dreht, ist er beherrscht, heimgesucht von der Szene bei Bresson. Aber es ist kein Zitat, es liegt nichts Bildungsbürgerliches darin. Es ist viel intimer, wie eine Inbesitznahme. Man könnte mit Roland Barthes sagen, dass Bressons Szene in Jean Eustache übergegangen ist, der sie in seinem eigenen Film erneut filmt. Er kann nicht anders als sie umzuformen, »anders« zu machen und damit zu seiner eigenen.

Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir gemeinsam das Ende von La Maman et la putain wiedergesehen haben? Ich hatte dir den Mord an Janie Marèse durch Michel Simon in Jean Renoirs La Chienne gezeigt. Das war genau das gleiche für Eustache. Er verdaute und eignete sich eine Szene an, die für seinen Wunsch, Kino zu machen, entscheidend war. Eine Art Urszene des Filmemachers. Das ist manchmal genauso originell und real wie etwas, das man tatsächlich selbst erlebt hat. Weil man etwas von sich selbst in dieser Szene wiedererkannt hat. Wenn Eustache aus der Pickpocket-Szene eine eigene Szene macht und sie verformt, dann tut er das, indem er diese dreiecksartige Einstellung dreht, die bei Bresson undenkbar wäre. Die Kamera begleitet Daniels Blick in Richtung der Großmutter, bewegt sich über den Kopf des kleinen Mädchens hinweg, sie zeigt das Verbotene vor dem Gegenstand des Pseudo-Begehrens, bevor sie zum Mädchen herunterschwenkt und kühl, distanziert auf Daniels Gesicht zurückkommt, der die Herausforderung entwickelt, indem er das Mädchen auf der Bühne anblickt.

Als das Lied zuende ist, verschwinden die Großmutter und das Mädchen buchstäblich aus seinem Gesichtsfeld. Sie hinterlassen eine gähnende Leere an seiner Seite, als ob das Reale sich plötzlich ablöste von seiner Träumerei, von seiner mentalen Konstruktion dieser Szene.

Am Ende dieser Sequenz liegt es etwas Schreckliches in diesem Paar: Großmutter und Mädchen. Die beiden bieten den Anblick zweier identischer Ausfertigungen ein und der selben Spezies. In der Einstellung, wo sie sich aus seinem Blickfeld entfernen, muss Daniel auffallen, dass das Schicksal dieses Mädchens darin besteht, eines Tages so zu sein wie seine Großmutter. Gleiche Größe, gleiche Statur, gleiche Gangart, und wahrscheinlich auch beinah die gleiche Art von Leben: Heirat, Kind, Wiederholung des Schicksals der Mutter und der Großmutter. Als Jean Eustache seinen Film macht, ist ihm sehr bewusst, dass er selbst seinem Schicksal in der Provinz entkommen ist. Er lebt in Paris, er ist Regisseur, er wird geschätzt, aber selbst wenn er seinem sozialen Schicksal entkommen sein sollte, trägt er dessen unauslöschbare Zeichen. Das Leben, das er sich erfunden hat, hätte nicht das seine sein müssen. Das hat er nie vergessen. Man muss sich lediglich Numéro Zéro und La Rosière de Pessac anschauen.

Vielleicht denkt auch Daniel darüber nach, seinem Schicksal zu entkommen und ein anderes Leben als das vorgesehene zu leben, als er die Großmutter und das Mädchen beobachtet. In der vorherigen Szene, als der Angeber ohne großen Aufwand und mit Erfolg mit der Frau anbandelt, die den Platz überquert, hat Daniel gemerkt dass der Besitz von Geld die Befriedigung der Bedürfnisse sehr erleichtert. Er selbst hat kein Geld und wird so schnell keines haben. Er lebt weder da, wo er gern leben würde (auf dem Land) noch mit wem er gern leben würde (mit seiner Großmutter), er muss das Gymnasium abbrechen und seine Mutter liebt ihn nicht.

Seine Geste in all ihrer Absurdität hat vielleicht in Wirklichkeit kein anderes Ziel als sich zu beweisen, dass seine Charakterstärke und sein Stolz ihn über die Festlegungen hinausheben. Er unternimmt diesen absurden Annäherungsversuch, um sich zu beweisen, dass er allen Bedingungen, die gegen ihn sind, vielleicht überlegen ist. Er behauptet damit eine absolute schrankenlose und souveräne Freiheit – souverän, weil sie schrankenlos ist.

Bresson zeigt zu keinem Zeitpunkt den Gegenschuss dieser Einstellung, das Pferderennen. Es ist nur über die Tonspur anwesend. Eustache dagegen entscheidet sich dafür, den Gegenschuss zu zeigen: Den Chor der Mädchen auf der Bühne. Aber ist das, was wir sehen, auch das, was Daniel sieht? Das ist kaum wahrscheinlich. Daniel ist, wie der Taschendieb, ganz auf sich selbst konzentriert, auf seine Herausforderung, und sein Blick wirkt nicht transitiv. Er sieht zwar, sicher, aber mit einer umherschweifenden Aufmerksamkeit. Jedenfalls fasst er nichts Genaues ins Auge. Zudem sind die beiden Einstellungen auf das Chormädchen nicht unbewegt, wie sie es sein müssten, wenn es sich um Daniels Blickwinkel handeln würde. Es sind zwei gleitende Kamerafahrten, die der schwankenden Aufmerksamkeit Daniels entsprechen. Er fokalisiert kein einzelnes Mädchen. Das einzige, was das Mädchen heraushebt, dem er später auf der Straße nach Salinas begegnen wird, ist ihr schwarzer Rock, während alle anderen weiße Sonntagskleider tragen. Und sie ist weniger beflissen als die anderen, ironischer und distanzierter, auch jugendlicher. Irgendetwas daran wirkt auf Daniel vielleicht wie ein Zeichen, aber er weiß noch nichts davon. Es ist nötig, dass der Zufall sie ihm auf der Straße wiederbegegnen lässt, damit das erste, noch unmarkierte, virtuelle, latente Treffen zu einer wirklichen Begegnung wird, selbst wenn sie scheitern soll.

Boris Eustache, Jean Eustaches Sohn, war Assistent bei den Dreharbeiten zu diesem Film. Er erinnert sich, dass sein Vater wie vor den Kopf gestoßen war von der Art, in der Carl Theodor Dreyer in Ordet den Chor gefilmt hatte. Die Szene bei Dreyer scheint nichts mit der bei Eustache zu tun zu haben. Aber es ist doch etwas aus ihr in Eustaches Szene eingegangen. Ein Rhythmus, eine Bewegung. Zwei Kamerafahrten in entgegengesetzten Richtungen auf eine Gruppe Singender. Das reine Motiv – eine Gruppe von Sängern – hat den gleichen Wunsch ausgelöst, den Chor in zwei Schritten zu filmen. Mit einer festen Einstellung, die sich plötzlich in Bewegung setzt und über die Körper gleitet. Auch das gehört zum Antrieb eines Filmemachers: Einen Rhythmus zu finden. Und dieser Antrieb braucht keinerlei weitere Rechtfertigung. So wie ein Maler das Bedürfnis haben kann, einen bestimmten Farbton von Cézanne zu finden.

Ich habe den Film bestimmt zehn Mal gesehen, ohne wirklich auf den Text des Gesangs zu achten. Es geht um einen Jungen, Grégoire, der voller Mut und Ehrgeiz ist und dem alle Berufungen verbaut werden. Denn alle, an die er sich wendet, finden ihn zu klein. Er stirbt auf dem Schlachtfeld durch eine Kugel, die ihn zwischen die Augen trifft. Als er im Himmel ankommt, muss ihm Jesus, der Christus der Kinder, die Pforte öffnen, weil sogar Petrus ihn für zu klein gehalten hat. Die Parabel ist sehr deutlich. Der Grégoire aus dem Lied von Théodore Botrel ist ein Ebenbild Daniels. Er ist bei den Größeren im Café zu klein und zu groß für die Kinder-Kirmes, nie wirklich an seinem Platz, außer bei seiner Großmutter. Eustache hat seine eigene Großmutter in einem Film namens Numéro zéro sehr schön porträtiert. Daniel und Jean treffen sich in ihrer Nostalgie für eine Kindheit, die sich mit der schützenden und liebenden Großmutter verbindet.

Siehst du, diese Szene, die einfach so dahin zu fließen scheint, erzählt uns nicht nur etwas über die Figur Daniel und die Kindheit Jean Eustaches, sondern auch darüber, wie das funktioniert, im Kino etwas zu schaffen. Wodurch das hindurchgeht und welchen Einsatz es braucht. Und auf einmal versteht man mehr als die Gefühle des Films. Man versteht auch die Gefühle des Schöpfers, der diesen Film herstellt. Jean Renoir hat gesagt, um ein guter Zuschauer sein zu können, müsse man ein potentieller Filmemacher sein. Er hatte Recht.

Kommentartext zur Analyse von Mes petites amoureuses (Jean Eustache, 1974), enthalten auf der DVD-Veröffentlichung des Films in der Reihe EDEN CINÉMA.

Filmografie