Filmvermittlung und Bildforschung: Harun Farocki

Minimale Variation

Harun Farocki im Gespräch mit Georg Alexander

Am 27.7.1969 strahlte der WDR Harun Farockis Film Nicht löschbares Feuer aus, in der Reihe »Versuche«. Nach der Ausstrahlung führte das Mitglied der WDR-Filmredaktion Georg Alexander ein erläuterndes Interview mit dem Filmemacher:

Georg Alexander Der Film, den Sie soeben sahen, ist ein Versuch. »Versuche« heißt auch die Sendereihe, in der wir ihn ausgestrahlt haben. Im Gegensatz aber zur Inflation der rein formalen Filmexperimente in jüngster Zeit handelt es sich hier um den Versuch, das Medium Film politischer Information und Agitation nutzbar zu machen. Derartige Versuche gibt es noch nicht lange; in jüngster Zeit wurden sie in Berlin, an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, entwickelt. Harun Farocki, Autor des Films Nicht löschbares Feuer, war Student an dieser Akademie.

Harun Farocki Im November letzten Jahres endete das Studium für mich und 17 andere Kommilitonen, und zwar endete es durch Relegation, und diese Relegation hängt mit den ganzen Konflikten zusammen, die in den zweieinhalb Jahren der Akademie zwischen uns und der Direktion ausgetragen wurden. In diesen zweieinhalb Jahren hat sich allmählich die ganze Politisierung der dort studierenden Studenten entwickelt. Man kann sie in etwa in drei Phasen einteilen: In der ersten Phase versuchten Filmemacher, Filme ÜBER ein politisches Thema zu machen, mit all den Vorbehalten und Standards und Clichés wie zurückhaltende Objektivität, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stellung-Nehmen. In der zweiten Phase versuchten sie, Filme FÜR die sich entfaltende politische Linke zu machen, ein Beispiel davon ist der 2.-Juni-Film von Minow, der über die Akademie hinaus etwas bekannt geworden ist. Und eigentlich erst in der dritten Phase begann die Arbeit von Filmen MIT politischen Leuten. Die alte Trennung von Autor und Gegenstand des Films wurde dort zum ersten Mal aufgehoben. Ganze Projektgruppen machten Filme innerhalb eines politischen Konzeptes.(...)

In diesem Falle ist eigentlich das Hauptproblem, dass politische Agitation nicht von einer Person getragen wird, sondern von einer ganzen Gruppe und die ganze theoretische Arbeit einer Gruppe, in diesem Fall der Technologie-Gruppe von Berlin, in dem Film dann drin steckt, die althergebrachten Autorenbegriffe sich häufig aber auch in den Dienstverträgen so niederschlagen, dass eben ein Autor oder Regisseur entgolten wird, aber nicht die Gruppe, so dass man eigentlich sich die Arbeit der Gruppe aneignet.

(...)

Georg Alexander Wie ist der Entwicklungsprozess von den Anfängen bis zum Beispiel zu diesem Film Nicht löschbares Feuer und wie stellen Sie sich vor, dass es weitergeht? In einer Kolumne der Zeitschrift »Film« haben Sie kürzlich geschrieben, diese Art von Film sei nicht mit der Kunsttheorie zu fassen, sondern mit der Wissenschaft vom Lernen.

Harun Farocki Wir versuchen eine ganze Menge von theoretischen Ansätzen durchzuspielen, um eine Systematik der Agitation zu finden. Es gibt da nicht nur den Ansatz, die Theorie vom Lernen anzusehen, also alle didaktischen Theorien, sondern auch beispielsweise wird die bestehende Werbung untersucht. Ein anderer Ansatz ist, psychologische Verhaltensmodelle zu untersuchen, also zum Beispiel, was man in der Werbung »persuasion« nennt, nachzuprüfen... Überredung, Verführung. In der Praxis sieht es natürlich so aus, dass die politischen Bedürfnisse nach Produktionen von Filmen einen so umfangreichen theoretischen Ansatz eigentlich gar nicht ermöglichen... (...) Es gibt da ein Element, das nenne ich so ähnlich wie »minimale Variation«. Das besagt eigentlich, dass alle Arten von Filmen eine unwahrscheinliche Reizüberflutung an Bildern, an Einstellungen, also lauter unvergleichbare Sachen, anbieten, die man überhaupt nicht interpretieren und einordnen kann. Das Prinzip der minimalen Variation versucht dagegen, alles, was einmal in einem Film vorkommt - oder in einer Argumentation vorkommt -, immer wieder vorkommen zu lassen, mit einer geringfügigen Veränderung, (zum Beispiel die Schlusssequenz meines Films ist so aufgebaut,) so dass die geringfügige Änderung sich absetzt von dem bereits Vertrauten und überhaupt als Prozess verstanden werden kann. Das ist zum Beispiel ein formaler Ansatz, den man aus der Lerntheorie destillieren könnte, weil es Unterrichtsmodelle gibt, die so ähnlich aufgebaut sind.

Harun Farocki am 27.7.1969 im WDR 2  
Harun Farocki am 27.7.1969 im WDR