Filmvermittlung und Bildforschung: Harun Farocki
Arbeiter verlassen die Fabrik
zu Harun Farockis Film
Einer der ersten Filme der Filmgeschichte zeigt Arbeiter beim Verlassen einer Fabrik zur Herstellung fotografischer Artikel, der »Société Anonyme des Plaques et Papiers Photographiques A. Lumière et ses Fils« in Lyon. Im Pulk gehen die Frauen und Männer durch das Fabriktor, bevor sie nach links und recht zügig aus dem Bild verschwinden.
Der kaum einminütige Film, wie die meisten Lumière-Filme in einer Einstellung gedreht, markiert eine der Geburtsstunden der Kinematographie. Für Harun Farocki ist er zugleich der Ausgangspunkt einer ikonographischen Untersuchung, für die er eine Vielzahl von Varianten dieses »filmischen Topos« montierend in Beziehung setzt und aus dem Off kommentiert. Zum hundertsten Geburtstag des Mediums lässt er die Bilder selbst zu Wort kommen und kombiniert Found Footage, gefundenes Material aus Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Wochenschauen: Marilyn Monroe, die in Fritz Langs Clash by Night von ihrem Freund nach der Arbeit abgeholt wird; Betriebskampfgruppen in der DDR, die aus der Fabrik ausrücken; ein Lautsprecherwagen der IG Metall, der in den 70er Jahren skeptische Arbeiter vor dem Volkswagenwerk in Emden mit Ernst Busch-Musik zu agitieren versucht; ein Streikbrecher in Pudovkins Desertir, der unter der Last von Kisten zusammenbricht, die am Hamburger Hafen entladen werden, und dabei von den Streikenden argwöhnisch beobachtet wird.
Farocki hat den Schauplatz vor dem Fabriktor – eine Schwelle zwischen profitorientierter Produktionsstätte und öffentlichem Raum - nicht zufällig gewählt. Vielmehr hat ihn sein kontinuierliches Interesse an Arbeitsprozessen und ihrer Repräsentation im Bild dorthin geführt. Wie kommt es, fragt er, dass die Fabrik filmgeschichtlich ein Nebenschauplatz geblieben ist? Ist das Medium Film, da es auf Sichtbarkeit angewiesen ist, historisch zu spät entstanden, um Arbeitsprozesse zu dokumentieren, deren sichtbar-manuelle Anteile im zwanzigsten Jahrhundert zusehends zurückgehen und verschwinden?
Das Vorbild für diese Art der sammelnden, systematisierenden und vernetzenden Arbeit sind Wörterbücher, in denen die Geschichte eines Wortes ebenso wie seine Bedeutung und Verwendung verzeichnet ist. Arbeiter verlassen die Fabrik ist Farockis erster »Eintrag« in einem solchen »Archiv filmischer Ausdrücke«, für das in den Neunziger Jahren mit Der Ausdruck der Hände (1997) und Gefängnisbilder (1999) weitere Arbeiten entstanden sind.
Zu Lumières Film, der so etwas wie das erste Wort in der Bildsprache des Kinos darstellt, kehrt Farocki in seinem Film mehrfach zurück. Mit dem Wissen um die hundertjährige Geschichte des Mediums ist bereits dem Film von 1895 vieles zu entnehmen: Wie schmucklos die Fabrik erscheint und wie wenig sich über die Macht der Industrie und der Arbeiter in ihrem Bild mitteilt. Wie schnell sich die Arbeiterinnen und Arbeiter bewegen, um vom Arbeitsleben ins Privatleben zu wechseln.
Ein dramatischer Ort wird aus dem Übergangsort vor der Fabrik erst durch den Arbeitskampf. Die Konfrontation zwischen Arbeitern und Industriellen, aber auch zwischen Streikenden und Streikbrechern macht gesellschaftliche und ökonomische Konfliktlinien kenntlich, die im Arbeitsalltag unsichtbar bleiben. In einem Film von D.W. Griffith ist dies in Bildern ausgedrückt, die einem Bürgerkrieg ähneln, in einer Aufführung von Brechts Mutter Courage, die Farocki unkommentiert lässt, deklamiert der Chor singend seine Forderung: »Gut, das ist das Stück Brot, wo aber ist der ganze Laib?«, und der Vorarbeiter antwortet: »Also Streik«.
Arbeiter verlassen die Fabrik ist eine Abfolge von genauen Bildlektüren. Farocki entnimmt den Bildern ein ihnen einbelichtetes gesellschaftliches Wissen, ohne sie in der Lektüre einer forcierten Deutung unterzuordnen. Darin ist der Film beispielhaft für Farockis Verfahren, den Bildern selbst argumentatives Potential zuzusprechen. Bei der Montage lässt er sich von dem leiten, was sich in ihnen artikuliert: Von den Marschblöcken, in denen die Arbeiter 1934 bei Siemens diszipliniert sind, kommt er zu Langs Metropolis mit seinen Formationen in Reih und Glied, vom prominenten Motiv des Streiks zu einem Werbefilm, der die Sicherung des Fabrikgeländes durch automatisch hochfahrende Sicherheitsschranken propagiert. Über die motivische Ähnlichkeit zwischen Fabrikausgang und Gefängnistor und die Gemeinsamkeit beider gesicherter Architekturen ist auch Gefängnisbilder schon in Arbeiter verlassen die Fabrik angelegt: »Wo einmal die erste Kamera stand, da sind heute hunderttausende von Überwachungskameras zur Stelle.«
Der Film ist 1995 zum hundertsten Geburtstag des Kinos entstanden; für eine Ausstellung, die Anfang 2006 in der Wiener Generali Foundation und im Frühjahr 2007 in der Berliner Akademie der Künste stattfand, hat Farocki erneut an Arbeiter verlassen die Fabrik angeschlossen und den Film - nun in Monitoren installativ nebeneinander arrangiert - um weitere Ausfertigungen des Motivs ergänzt.
Filmografie
- Jörg Becker, Harun Farocki: Arbeiter verlassen die Fabrik, (DE 1995)