Filmvermittlung und Bildforschung: Harun Farocki
Transkription des Kommentartexts zu »Der Ausdruck der Hände«
Das Folgende ist die Transkription des Kommentartexts zu »Der Ausdruck der Hände«, der im Film von Farocki selbst gesprochen wird. In eckigen Klammern Hinweise auf die Filme, aus denen die an zwei Videomonitoren gezeigten Ausschnitte stammen, in Einzelfällen auch Teile des Texts, der in ihnen gesprochen wird.
[»Pickup on South Street«, Sam Fuller 1953]
Ein Mann und eine Frau, die einander nicht kennen; sie treffen zusammen. Es kommt zu einer Handlung und zu einem Augenspiel. Zwei Polizisten in Zivil beobachten den Akt, der da vollzogen wird, ohne zu verstehen.
Es ist nicht leicht, diese Bilderfolge aufzufassen.
Der Taschendieb macht ein distanziertes, ein abweisendes Gesicht, während seine Hand eine Annäherung versucht. Die Hand tut etwas anderes, als das Gesicht anzeigt. Der Dieb öffnet die Tasche der Frau, die Frau öffnet die Lippen, so dass es scheint, der Dieb habe ihr die Lippen geöffnet. Die Frau sieht eher verführt aus, als bestohlen. Die Hand begeht ein Verbrechen und scheint eine Lust zu erzeugen.
Das ist aus einem Stummfilm von 1908. Die Hände einer Diebin verstecken gestohlenen Schmuck in einem Stück Seife. Die Frau im Pyjama ist die Diebin. Sie ist über den Sims an der Fassade in das benachbarte Zimmer geklettert, wo sie der dort Schlafenden Schmuck entwendet. In ihrem Zimmer zurück, versteckt sie den Schmuck in einem Stück Seife. Ihre Hände tun das vor einem schwarzen Hintergrund, damit keine Einzelheit von ihrem diebischen Tun ablenkt. Es ist bemerkenswert, dass dieser Film sonst keine Nahaufnahmen hat. die Kameraeinstellungen zeigen stets die gesamte Spielfläche. Eine Grossaufnahme gibt es nur für die Hände beim Vestecken der Beute. Die Großaufnahme gibt es nur, um die verbrecherische Handlung zu verdeutlichen. Ein Handlungsfilm also, das englische Wort dafür ist ›Action‹. Diese Frau, die später im Pyjama den Schmuck stehlen wird, hier drückt sie mit dem Gesicht und dem Körper etwas aus, was wohl Ärger darstellen soll, und auch böse Absicht.
Wir sind es heute gewohnt, eine Filmszene in Bildausschnitten zu sehen zu bekommen, die Bildausschnitte führen unseren Blick. Ohne diese Bildführung und ohne das gesprochene Wort fällt es uns schwer, überhaupt zu verstehen, was gespielt wird.
Die Mimik und Gestik der Darsteller im Stummfilm kommt uns vor wie eine fremde Sprache, die wir nicht gelernt haben. Das ist ein Buch über den Bau der verschiedenen Gebärdensprachen für Gehörlose. Man kann sich fragen, ob das Kino auch eine verbindliche Gebärdensprache entwickelt hätte, wenn die Stummfilmzeit länger gedauert hätte.
Hier versucht ein Mann, seine fühllos gewordenen Hände zu erwärmen. Die tauben Hände können die Hölzer nicht halten und also das Feuer nicht entzünden, an dem sie sich wärmen wollen. Die fühllosen Hände sollen daran denken lassen, was für ein dienstbares Werkzeug die Hände sonst sind. Was die menschliche Hand bedeutet, das wird hier im Versagen dargestellt.
Diese Bilder sollen den Wert der menschlichen Hand erweisen. Allerdings geben diese Bilder kaum etwas her als den Begriff der Tätigkeit, der mit ihnen dargestellt sein soll.
Der Bergfilm hebt den Wert der Hand anders hervor. Am Berg geht der Mensch noch oder wieder auf allen Vieren. [»North by Northwest«, Alfred Hitchcock, 1959] Am Berg hängt das Leben der Menschen an der elementarsten Funktion der Hand.
Diese Bilder erschienen zwischen 1934 und 1937 in den USA in einem Film, der Arbeitsbeschaffungsmassnahmen propagierte. Die Arbeit, die hier gezeigt wird, ist austauschbar, das heißt sie geht im Geld auf, das hier von Hand zu Hand geht; das zirkuliert.
Auch die Bilder zirkulieren. 1944 finden einige in einem Film Wiederverwertung, der zu letzten Kriegsanstrengungen gegen die Deutschen und Japaner aufruft. Von den amerikanischen Rüstungsarbeitern sind hier nur die Hände zu sehen, was wohl der Vorstellung folgt, all diese Hände hingen an einem großen allegorischen Körper.
Dieses Buch [Dyk Rudenski: Gestologie und Filmspielerei. Mit einem Vorwort von Franz Blei] - von 1927 – ist ein Entwurf zu einer Schule für Filmschauspieler. Im dritten Kapitel legt der Autor dar, dass es einen grossen Unterschied macht, ob eine Geste mit dem Handrücken oder dem Handinnern ausgeführt wird. Er schreibt: »Im Handrücken drücken sich die verstandesmäßigen Emotionen aus, im Handinnern die seelisch bestimmten Emotionen.« Er schreibt: »Bei einer konventionellen Begrüßung küsse man den Handrücken. Küsse man jedoch die Handfläche, drückt das leichtverständlich aus, dass das nicht eine nichtssagende Begrüßung, vielmehr eine begehrende Huldigung sei. Auch eine Ohrfeige ist intimer, wenn sie mit dem Handinnern geschlagen wird. Mit dem Handrücken geschlagen, ist sie eine Abstrafung.
[»Le Petit Soldat«, Jean-Luc Godard 1960: »Ein Sieg ist besser als eine Niederlage. Der Gruss der Republikaner Spaniens: Schön... weil er nicht böse ist, wie dieser hier. Er ist stolz.«]
Das ist eine drohende Faust, und hier ist eine Faust, die dem Begrüßten die schwache Seite zuwendet, die Rückseite der Drohung.
Man kann die eigene Hand hin- und herwenden und von allen Seiten betrachten, wie das mit keinem anderen Körperteil möglich ist. [»Un Chien andalou«, Luis Bunuel 1929] Die Hand kann vor den Augen ihres Eigners posieren, so wie ein Mensch sich vor dem Spiegel dreht. Und die Hand ihrerseits kann als Spiegel imaginiert werden, auch als Schreibfläche, als Bühne [Farocki schreibt auf seine Hand: »Papier« / »Bühne« / »Bildschirm«]. [»Un Chien andalou«] Dieser Film ist kein Handlungsfilm, kein Actionfilm. Der Mann schaut auf seine Handfläche und bewirkt etwas mit seinem Blick. Es ist nicht die Hand, die handelt; vielmehr: das Auge.
Der Autor dieses Buches, 1927 schlug er die Gründung einer Filmschule für Schauspieler vor. Das gibt es auch heute noch nicht. [»Jede menschliche Arbeit ist auf einer sehr geringen Anzahl von Grundbewegungen aufgebaut wie: Hinlangen, Greifen, Bringen«] Der Autor will eine Sprache der Gesten entwerfen und sucht nach einer Urgrammatik der darstellenden Ausdrücke. Er entwirft einen Lehrplan für die Filmschauspielerschule. Im dritten Semester sollen sie studieren: Taylorismus. Ökonomie in der Bewegungslehre [»Jede menschliche Arbeit ist auf einer sehr geringen Anzahl von Grundbewegungen aufgebaut wie: Hinlangen, Greifen, Bringen«]. Taylorismus: Frederik Taylor wollte die menschliche Arbeit verwissenschaftlichen. Er führte die Stoppuhr in der Fabrikhalle ein, und suchte nach der rationalsten Weise, eine Arbeitsbewegung auszuführen. [Klavierspieler und fallendes Weinglas] Das ist bis heute noch nicht ausgeführt, dass man die Gesten der Arbeit und die Gesten der Filmerzählung in Beziehung setzt. [Klavierspieler und fallendes Weinglas] Die Bewegungsökonomie der Arbeit und die der Filmerzählung.
Die Klavierspieler sind dem Kino die wohl liebsten Handarbeiter. Der Film zeigt die Hände der Klavierspieler wohl ebenso gern wie die Hände, die einen Revolver halten. Dieser Film heißt Spiel der Hände und will seine Geschichte nur mit Bildern von Händen erzählen, was soviel heißt wie: Es gibt keine Gesichter zu sehen. Das ist ein abwegiges Vorhaben, vergleichbar denen, in der Badewanne das Meer zu überqueren oder auf Händen den Kontinent. Die Bilder funktionieren wie ein Ratespiel: Hat man erkannt, was da bezeichnet ist, ist ihre Funktion erfüllt. Dieses Bild fällt heraus. Die Hände der Gebärenden suchen einen Halt, um den Schmerz auszuhalten. Man kann sagen, dass dieses Bild auch in einem Film, der nicht auf Hände versessen ist, seinen Wert hätte. Zwei Kinder sind geboren worden, von denen das eine Konzertpianist wird. Wenn es um das Klavierspielen geht, dann haben die meisten Kameras die Neigung hier abzuschneiden, die Hände vom Rest der Person zu trennen.
Im Krieg verliert der Konzertpianist eine Hand; der Krieg hat ihm die Hand abgetrennt. Wieder wird das Vermögen der Hand angesprochen, indem man ihren Verlust zeigt. [Ein Armstumpf mit Haken ist zu sehen, der versucht, ein Glas zu heben und Klavier zu spielen] Es gibt ein ganzes Genre von Filmen, in denen die Hände der Pianisten eine besondere Rolle spielen: Sie werden abgeschnitten, abgehackt, oder sie machen sich selbst davon. Dieser Film handelt von einem Pianisten, der bei einem Unglück die Hände verliert und dann die Hände eines Mannes angenäht bekommt, der als Mörder hingerichtet wurde. Diese Hände haben eine Macht über ihn. [»Un Chien andalou«] Die vielen Hände, die von einem Krieg oder der Kamera abgetrennt werden. Das Klavierspielen ist eine Handarbeit, allerdings wird diese Arbeit vor einem Publikum ausgeführt. Es ist eine Schauarbeit, die die übrigen Handarbeiten vertreten muss. Auch dieser Kriegsanstrengungsfilm aus den USA 1944 fängt mit dem Klavierspielen an und hört mit der Fabrikarbeit auf [engl.: »Hände, von Schmerzen gelähmt, verkrüppelte Hände, die nie wieder all das tun können, was uns selbstverständlich ist. Hände, weggerissen von solchen Leuten und solchen. Für sie – die Faust. Die starken Hände Amerikas, dazu die Fäuste des Zorns. Die Hände von millionen Arbeitern, die ihre Geschicklichkeit, ihre Liebe, ihre Kraft geben. Hände, die schleifen, einpassen, hämmern, formen, giessen, prüfen, bauen, zum Kämpfen. Hände für den enscheidenen Schlag – Bringen wir die Sache zu Ende!«
Das ist ein Kriegsanstrengungsfilm der Nazis. Der Arbeiter steht an der Maschine und überwacht die Herstellung des Geschützes. Er ist kein manueller Arbeiter. Er hat die Machine einzurichten und zu überwachen. Er fasst das Werkstück aber gerne an und läßt es durch die Hand gleiten. Er macht sich gerne die Hand schmutzig mit der Bohrmilchschmiere..
Amira von Schwerin: Rechtsarchäologie, Berlin 1943: »Das Berühren als blosse Tastgebärde ist ursprünglich Zauberhandlung. Diese zeigt sich am deutlichsten bei der ältesten Form des Eides, denn nur berührt, nicht angefasst oder ergriffen, wird beim heidnischen, magischen Eidgegenstand, der bezaubert werden soll.« Dieser Film kam nach Stalingrad, 1943 heraus, und da hat der Arbeiter allen Grund für magische Gesten. Der Film droht ihm auch, für den Fall, dass er ein Stück verdirbt.
[»Aus diesem Holz soll eine Geige entstehen. Wir befinden uns in der Werkstatt eines alten Geigenbauers.«] Das ist eine Ausgabe der europäischen Kulturwochenschau, die die Nazis im März 45 herausbrachten. In diesem Filmstück kommt kein zerstörtes Haus, kein Soldat, kein Lager, kein Toter, und nicht einmal ein Auto vor. Wieder sind Handarbeiter zu sehen; wieder wird die Fingerfertigkeit vorgeführt [»Mit viel Gefühl und Sorgfalt muss der Rumpf gebaut werden.«; Geigenspiel] Diese Lust, mit der das Kanonenrohr durch die Hand gleitet, das lässt daran denken, dass das Kino kein Medium der Berührung ist. Vielmehr leitet es sich vom Augensinn ab. Die meisten tastenden Empfindungen übersetzt das Kino in Blicke.
Außerdem sieht die menschliche Hand aus wie ein Krabbeltier. Jedes Kind stellt sich vor, wie die Hand sich davonmacht und verbotene Dinge anstellt. Das kann nicht ungestraft bleiben.
Das ist die Hand, die den Tod bringt. [»The Beast with Five Fingers«, Peter Lorre erwürgt sich mit der eigenen Hand, dann eineWesternsequenz].
Und das ist die Hand, die den Tod anzeigt. Der Wille verlässt den Körper, die Hand kann nichts mehr halten.
Die Essenz des Lebens wird frei.
Filmografie
- Harun Farocki: Der Ausdruck der Hände, (DE 1997)