Filmvermittlung und Bildforschung: Harun Farocki
»Zur Bauweise des Films bei Griffith«
»All art has been contemporary« – dieser Sinnspruch des Italieners Maurizio Nannucci leuchtet auf der Berliner Museumsinsel in rotem Neon zwischen den Säulen der Alten Nationalgalerie hervor und untermauert einen Anspruch:
Der Ausstellungsort (hier: von Gemälden und Skulpturen des 19. Jahrhunderts) definiert sich als Verbindung zwischen den Gegenwarten aller Zeiten, als Aufbewahrungsort und Schaufenster ewiger Lebendigkeit, als Gegenprogramm zum Konzept des Friedhofs, der an unvermeidliche Vergänglichkeit zu erinnern hat.
Dass die Dinge nicht immer so waren, wie wir sie kennen, dass auch die Konventionen des heutigen Kinos eine Vorgeschichte besitzen als brisante Neuentwicklungen, davon handelt Zur Bauweise des Films bei Griffith.
In der neunminütigen Untersuchung vergleicht Farocki zwei Werke von David Wark Griffith, dem amerikanischen Vorreiter des frühen narrativen Stummfilms. In der Gegenüberstellung von Sequenzen aus einem kurzen Film von 1911 (Lonedale Operator) mit Bildfolgen aus Griffith’s Filmepos Intolerance von 1916 markiert Farocki einen bedeutenden Schritt in der Filmgeschichte: Waren vorher – stellvertretend für die frühere Praxis der Film von 1911 – die Szenen in einer insofern statischen Weise aufgenommen worden, dass jeder durchmessene Raum in immergleicher Einstellung fixiert wurde (Stichwort: abgefilmtes Theater), dynamisieren sich die Darstellungsmöglichkeiten von dem Moment an, wo entschieden wird, den Dreh- und Handlungsort in mehrere verschiedene Aufnahmen zu zergliedern. Diese Diversifizierung der Bildproduktion schafft die Vorausssetzung für uns heute vertraute Techniken der Blick-, Gedanken- und Empfindungsführung. Diese Differenzierung macht aus dem raum- und bewegungslogischen Hintereinander-Kleben von belichteten Filmstreifen die Ausdruckskunst der Montage. Eine Kunst, die Zeit und Raum und damit Bedeutung neu organisiert.
Farocki bedient sich bei seinen Ausführungen einer Reihe von Sequenzen, in denen – sehr unterschiedliche – Begegnungen zwischen Männern und Frauen zu sehen sind. Dabei konzentriert er sich auf die Operation des Schuss-Gegenschuss, jenes Verfahren, das bspw. bei einem Dialog die Sprechenden/Zuhörenden abwechselnd einzeln zeigt. Besonders ausführlich wird eine Szene aus Intolerance analysiert, bei der ein Paar ein Gespräch führt, und zwar durch die Trennung einer geschlossenen Tür hindurch – moralische Grenzen werden Bildraum.
Zur Bauweise des Films bei Griffith ist ursprünglich für die Institution Galerie konzipiert worden, als einfache Installation aus zwei TV-Monitoren. In dieser Versuchsanordnung nutzt Farocki den erweiterten Handlungsspielraum, den ihm der Kunstbetrieb zur Verfügung stellt, um seine Forschungsergebnisse gleichsam objekthaft zu präsentieren. Die beiden Monitore zusammen stehen für das alte Bild und seine große, am Panorama der Theaterbühne orientierte Rahmung. Das neue, das hervorhebende und konzentrierende Bild leuchtet nur in demjenigen Monitor auf, der seiner ungefähren Position als Ausschnitt im virtuellen Gesamtbild entspräche (der jeweils andere Monitor bleibt schwarz oder zeigt einen Texteinschub). Im Prozess des Auseinandernehmens und Hervorhebens entsteht Wissen über das Auseinandergenommene wie über das Hervorgehobene. Farocki hat die Bilder auf den beiden Fernsehgeräten so in Bezug gesetzt, dass besonders deutlich wird, wie das Neue aus dem Alten hervorgeht.
Nur zweimal und jeweils für den sehr kurzen Augenblick einer Abblende verwendet Farocki die beiden Monitore, um das fiktiv gewordene Gesamtbild zu rekonstruieren. Wenn er beide Monitore mit Bildern bespielt, dann, um das untersuchte Bild zu doppeln. Zum Beispiel beim Kuss des Paares. Als die Sequenz nach diesem glücklichen Höhepunkt zurückspringt in das trennende Abbildungsverfahren und dort ausklingt, als wäre nichts besonderes geschehen – Mann links geht isoliert ab, Frau rechts zeigt ebenso isoliert eine Abfolge von Gesichtsausdrücken, die zusammen »Gemischte Gefühle« bezeichnen –, kommen auf einmal Zweifel auf. Plötzlich wirkt der Kuss seltsam deplaziert. Wie soll man das verstehen? Eine Antwort, von vielen: Der Kuss ist eine Wunschvorstellung, im selben Moment ersehnt von zwei Personen, die sich gegenseitig meinen – die Verdoppelung verstärkt den Eindruck von simultan UND reziprok wirkenden Gefühlen: ein Bild der Liebe, möglicherweise. In jedem Fall eine mit Hilfe der Montage hinzugewonnene Eigenschaft des Films: Jetzt können in ihm das Alte und das Neue, die wirkliche Welt und die Welt der Träume, können allgemein mehrere Deutungen gleichberechtigt nebeneinander verweilen.
Standbild aus der sog. Single Channel-Version, also der Fassung, die für eine Vorführung der Arbeit auf EINEM Bildschirm angefertigt wurde, wobei die beiden Bildhälften für die zwei Monitore der Galerien-, also der Double Channel-Version stehen:
Für die kurze Zeit einer Ab- bzw. Aufblende steht sich das Protagonisten-Paar der »Modern Story« aus Intolerance in einer nach-gebauten, vereinigenden Einstellung, die es so nur in Farockis Film gibt, gegenüber. Im Original ist der Zuschauer angehalten, mit der Aufmerksamkeit hin- und herzuspringen. Griffith und sein Kameramann Billy Bitzer wählen für beide Profile eine halbnahe Einstellunggröße. Zusätzlich engt je eine Kreisblende beide Bilder ein, schafft Aureolen der Konzentration, die den umgebenden Raum bis zur Bedeutungslosigkeit unkenntlich halten und die Hervorhebung verstärken sollen.
Das Bild ist bräunlich eingefärbt – kein Eingriff Farockis, sondern Beweis für die Tatsache, dass das frühe Kino nicht schwarz-weiß war, jedenfalls nicht in den gängigen Vorführsituationen. Den über vier Zeitalter verteilten Episoden von »Intolerance« sind unterschiedliche Farben zugeordnet; in Farockis Arbeit zu sehen: orange für die »Babylonian Story«, grün für die um die Bartholomäus-Nacht angesiedelte »French Story«, blau für die Streikgeschichte in der »Modern Story«, usw.
Filmografie
- Harun Farocki: Zur Bauweise des Films bei Griffith, (DE 2006)