Filmvermittlung und Filmrestaurierung

Zur Funktion von Film-Stills bei der Film-Rekonstruktion

Von Walter Moser

[1]Ich beziehe mich hier in erster Linie auf die Rekonstruktion von Stummfilmen. 80-90% derselben gelten als verloren. Die einzigen visuellen Spuren der Produktionen sind häufig Film-Stills, die zwar hinsichtlich ihrer dokumentarischen Relevanz immer wieder Verwendung fanden, ihrer eigenen medialen Spezifika wurden jedoch kaum hinterfragt. Ausnahme ist zum Beispiel eine Untersuchung von Winfried Pauleit. Vgl. Winfried Pauleit, Filmstandbilder, Frankfurt am Main 2004.

Film-Stills sind bekanntlich nicht der Film selbst, aber sie sind eine Instanz die Filme scheinbar visuell vermitteln können. So liegt auch ihre Relevanz für die Rekonstruktion von Filmen [1] auf den ersten Blick nahe, was sowohl in der technischen Verwandtschaft der beiden Medien, als auch in ihrer Funktion wurzelt. Wie zwiespältig sich der rekonstruktive Rückgriff auf dieses – erst seit kurzem als solches erkannte – Genre jedoch bei näherer Betrachtung darstellt, soll im Folgenden umrissen werden.

[2]Film-Stills werden generell folgendermaßen kategorisiert: 1. Stand- bzw. Szenenfotos, die meistens am Set zwischen den Dreharbeiten, aber auch beim Drehen selbst angefertigt werden. Sie machen den größten Teil der Film-Stills aus. 2. Produktions- bzw. Werkfotos, welche die Dreharbeiten selbst dokumentieren; 3. Portraits, die jedoch selten am Set, sondern in den Ateliers des Fotografen produziert werden.
[3]Alois Martin Müller gibt in seinem Aufsatz »Vorbilder und Nachbilder« den Hinweis, dass in einschlägigen Zeitschriften wie Motion Picture oder Photoplay die abgedruckten Bilder mit einem Autorenverweis versehen sind. Dies trifft jedoch in den häufigsten Fällen nur auf die Portraitfotos zu, da diese speziell in den Studios der Fotografen angefertigt wurden. Vgl. Alois Martin Müller, Vorbilder und Nachbilder, in: Annemarie Hürlimann und Alois Martin Müller, Film Stills – Emotions made in Hollywood, Stuttgart 1993, S. 15.
[4]Eines der berühmtesten Beispiele hierfür ist Josef von Sternberg, der seinen Star Marlene Dietrich durch die konsequente Nutzung der Fotografie „aufbaute“ und vermarktete.

Die Aufgaben der Film-Stills [2] sind klar definiert: Als Werbe- bzw. Pressematerialien für Medien und Schaukästen der Kinos gedacht, werden diese Fotos von einem Fotografen am Set angefertigt, wobei der Schwerpunkt oft nicht auf der authentischen fotografischen Wiedergabe einer filmischen Realität liegt, sondern in deren medialer Rezeption, die an einem visuell »interessanten« Bild interessiert ist, gesucht werden muss. Die Autorenschaft des Fotografen spielt hierbei eine unwichtige Rolle [3], häufig erscheint sein Name nur im Filmabspann, das Foto scheint bloßes Dokument zu sein, geliefert von einem Handwerker, der vielfach eher den Blick des Kameramannes und des Regisseurs als seinen eigenen wiederspiegelt. Ihm einen naiven Umgang mit dem fotografischen Medium zu unterstellen wäre dennoch ein großer Fehler, da gerade die Film-Stills in ihrer Funktion als Werbeträger, bereits vor der Premiere eines Films veröffentlicht wurden und wesentlich zu dessen medialer Rezeption beitrugen. [4]

[5]Der wohl meiststrapazierteste Satz der Filmgeschichte drückt dies so aus: »Als die Bilder laufen lernten...«. Ähnlich stellt auch für Sigfried Kracauer der Film die konsequente Weiterentwicklung der Fotografie dar. Vgl. Sigfried Kracauer, Theorie des Films, Frankfurt am Main, 1964.

Die prominentesten Unterschiede, die stets zwischen dem fotografischen und dem filmischen Medium konstatiert werden, lassen sich vereinfachend anhand der Gegensätze Zeitpunkt/Zeitdauer und Stillstand/Bewegung zusammenfassen: Fotografie ist zu einem Zeitpunkt eingefrorene Raumkunst, der Film hingegen, indem er auf der Zerlegung in einzelne Bilder auf seinem materiellen Träger und deren projizierte Wiederbelebung auf der Leinwand basiert, Fotografie mit Bewegung und realer Zeit. [5]

[6]Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001, S. 229.

»Die Kamera ist an das Gegebene gebunden, das von unserem Willen unabhängig ist. Und dennoch ist der Wille am Bildermachen beteiligt weil er von einer persönlichen Aufmerksamkeit gesteuert ist.« [6] schreibt Hans Belting über das fotografische Bild. Dieses Zitat ist für Films-Stills insofern relevant, als es einerseits den Mythos der beiden Medien als »realitätsnahes« bzw. an »das Gegebene« gebundene (im Dubois’schen Sinne als »indexikalische«) optisch-visuelle Abbildungsverfahren zeigt, andererseits betont, dass »das motivische Fakt« unterschiedlich in Szene gesetzt werden kann.

Die Affinität zwischen den beiden Medien legt zwar den vordergründig logischen Einsatz von Film-Stills zu Dokumentations- und Rekonstruktionszwecken nahe, die unterschiedlichen »Sichtweisen« von Film- und Fotokamera, die einerseits Bewegung und andererseits Stillstand voraussetzen, ermöglichen jedoch die »authentische« Wiedergabe eines Films in Form von Stills nur bedingt.

[7]Vgl. John Szarkowski, in: Susan Sontag, Über Fotografie, München Wien 1978, S. 181.
[8]Christian Metz definiert gewisse »kinematographische Codes« wie zum Beispiel Beleuchtung oder Montage, die sowohl im Film als auch in der Fotografie verwendet werden können, welche jedoch für jedes Medium eigens adaptiert werden. Der Fotografie kommt in dem Vergleich - aufgrund ihrer Unfähigkeit Bewegung oder auch Ton wiederzugeben - eine dem Film untergeordnete Rolle zu. Vgl. Christian Metz, Sprache und Film, Frankfurt am Main 1973, S. 243-254.

So zeigen Film-Stills erfahrungsgemäß nicht dasselbe wie der Film selbst, sondern sind häufig aufwendig nachgestellte und für die Fotografie eigens inszenierte Szenen, deren Narration sich nicht über eine bestimmte Zeitdauer entfaltet, sondern sich in einem konkreten Zeitpunkt verdichtet. In diesem Zusammenhang kann von einem Transformationsprozess, einer »visuellen Redigiermethode« [7] gesprochen werden, bei welcher der »Filmkörper« in vereinzelte Film-Stills zerlegt wird. Es war Christian Metz, der Film und Foto als zwei miteinander verwandte Sprachen definierte, wobei er letzterem gegenüber dem Film nur begrenzte Ausdrucksmöglichkeiten einräumte. [8] So muss die Umwandlung von bewegten in statische Bilder immer auch im Sinne von Ausschluss oder Abstraktion gesehen werden. In diesem Verlust der wesentlichsten Charakteristika des Filmbildes liegt die Problematik für die Verwendung von Film für die Rekonstruktion.

Für die Film-Stills bedeutet dies einen Mangel gegenüber dem Film, der häufig durch formale Stilmittel wie zum Beispiel Unschärfe, die beim Betrachter Bewegung suggerieren soll, ausgeglichen wird. Auch eine Bildserie kann als filmisches Mittel angesehen werden, versucht sie doch über mehrere statische Bilder dem Betrachter eine Narration, die sich über eine zeitliche, also »filmische« Struktur entwickelt, zu vermitteln. Es ist bekannt, dass von einem Film oft Hunderte Filmstills angefertigt werden, die als eine syntagmatische Bildfolge gelesen werden können. Der Rekonstruktion einer filmischen Narration sind Stills dieser Art dennoch nicht dienlich, da diese Einzelbilder nicht ihre volle Bedeutung über weitere erhalten, sondern zumeist isoliert für sich stehen.

[9]Siehe in diesem Zusammenhang einen Versuch einer Rekonstruktion von Josef von Sternbergs The Case of Lena Smith des Wiener Filmmuseums: Alexander Horwath (Hg.), Josef von Sternberg – The Case of Lena Smith, Wien 2007; Siehe weiters die Rekonstruktion von Erich von Stroheims Greed durch Rick Schmidlin.

In dem Versuch eine möglichst lückenlose, vielfältige und komplette Bestandsaufnahme eines verlorenen Filmes wiederzugeben, wird nicht selten auf eine Kombination von erhaltenen Stills und Drehbuch gesetzt [9] Dies erscheint als ein logischer Schritt, da mit dem Text auf die Vorform der filmischen und fotografischen Repräsentation zurückgegriffen wird. Die über den Text transportierte Narration wird in beiden Medien visualisiert und ist somit sowohl dem statischen Still als auch dem bewegten Film inhärent. Diese rekonstruktive Vorgehensweise ist jedoch nicht unproblematisch, da Stills einzelne Filmsszenen oft nur andeuten und bewusst für Assoziationen des Betrachters offen lassen.

Stills betonen nicht selten ihre eigene mediale Referenzialität, was sowohl formale als auch inhaltliche Rückschlusse auf einen Film zusätzlich erschwert. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist ein Still von Warren Lynch zu Erich von Stroheims 1924 gedrehten Film Greed (Abb 1.). Das Foto zeigt in einer Frontalaufnahme die Hauptdarstellerin Zasu Pitts, die in der Rolle der Trina dem Betrachter ihre verbundenen Finger präsentiert und ihn direkt anblickt. Dieser offensive Blickkontakt aus dem Bild heraus ist hier ein dezidiert fotografisches Mittel, im erhalten Film wird er aufgrund seiner desillusionierenden Wirkung nicht verwendet.

greed_001

[Abbildung 1 aus Fotosammlung Österreichisches Filmmuseum]

Trotz der ausgeführten Unterschiede zwischen Film und Filmfotografie kann es innerhalb ihrer Grenzen zu formalen Annäherungen der beiden – im Sinne von Metz – Sprachen kommen. Bildbeispiel 2 zeigt ein weiteres Still aus Greed. Gibson Gowland ist in dieser fotografischen Wiedergabe des Showdowns in der Wüste an den bereits toten Jean Hersholt gekettet. Definiert man Fotografie als Schnitt durch Zeit (Bewegung) und Raum, findet sich die Bildkomposition des Stills in nur leicht veränderter Form im Film wieder – und umgekehrt. Die mediale Angleichung funktioniert hier insofern, als diese Filmszene mit einer fixen Kameraeinstellung gedreht wurde, wodurch ein unverrückbarer Rahmen, der als einer der wesentlichsten Merkmale der Fotografie angesehen werden kann (hier liegt auch die Affinität zum Filmkader), diese Szene des Films formal eingrenzt. Gleichzeitig versucht der Standfotograf durch einen Standort direkt neben der Filmkamera einen ähnlichen Bildausschnitt wie diese zu erzielen.

greed_002

[Abbildung 2 aus Fotosammlung Österreichisches Filmmuseum]

Ebenso kann man aber auch fotografische Verdichtungen mehrerer filmischer Einstellungen in einem einzelnen Film-Still beobachten (Abb. 3): Der Hauptdarsteller Gibson Gowland verabschiedet sich von seiner Mutter: Die Szene, welche im Film über mehrere Einstellungen hinweg erzählt wird, erscheint im Still durch die eindeutig als »Abschied« decodierbare Körpersprache der Dargestellten in einem Bild kompositorisch verdichtet.

greed_003

[Abbildung 3 aus Herman G. Weinberg: The Complete Greed, New York 1972]

Die drei gezeigten Fotografien skizzieren exemplarisch die enorme ästhetische Bandbreite des Bildtypus »Film-Still«. Die Problematik für Filmrekonstruktionen liegt darin, dass sich die Bilder in ihrer Funktion als Spuren bzw. visuelle Abstraktion eines noch existierenden Films von diesem her durchaus analysieren lassen, dies jedoch umgekehrt nur schwer funktioniert. Wie zwiespältig sich eine Rekonstruktion nur auf Basis von Fotografien gestalten kann, zeigen die Unmengen an Bildmaterial, welche dem verloren Teil von Greed zwar zugeordnet werden können, allerdings nur bedingt formale und inhaltliche Rückschlüsse auf den selben zulassen. Sähe man auch die drei erläuterten Bilder ohne den dazugehörigen Film ließe sich über diesen mit Sicherheit nur etwas über die Ausstattung und die Mise-en-Scene sagen - der Film ist und bleibt was er ist: verloren.

[Auszüge einer noch unveröffentlichten Dissertation über die Film-Stills von Warren Lynch zu Erich von Stroheims Greed]