Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala

Fährten legen
Zu Alain Bergalas filmvermittelnder DVD »Le point de vue«

Von Bettina Henzler

In seinem Essay zur Filmvermittlung »Kino als Kunst« entwirft Alain Bergala eine Methode, die von den spezifischen Möglichkeiten der DVD ausgeht, er nennt sie »Fragmente in Beziehung setzen«: »Auf der DVD kann man sehr viele Bilder und Klänge speichern und ganz einfach vielfältige Verknüpfungen programmieren, dank denen diese Filmfragmente in ebenso vielfältige ›denkende‹, zum Nachdenken über das Kino anregende Beziehungen gesetzt werden können.« [1] An die Stelle der »wissenden Stimme«, die viele Filmanalysen bzw. filmvermittelnde Filme in älteren Medien wie Video und Fernsehen bestimmt, soll die Auswahl und gezielte Verknüpfung von Filmausschnitten treten. Das »Denken« wird nicht mehr durch das Wort des Wissenden vorgegeben, sondern entsteht, wenn der Nutzer selbstständig zwischen den Filmausschnitten navigiert, über die vorgegeben Verbindungen reflektiert oder selbst Beziehungen herstellt. Mit dem Mechanismus der »denkenden«, zum Denken anregenden Verknüpfungen zwischen Filmausschnitten ermöglicht die DVD Bergala zufolge eine interaktive Weiterentwicklung des grundlegend filmischen Prinzips der Montage. [2]

[1]Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Marburg 2006. S.83. (Orig. L’hypothèse cinéma. Paris 2002.)
[2]Alain Bergala: Éloge des morceaux choisis. In: Cahiers du cinéma. Heft 585. Dezember 2003, S. 72-74.

Dieses Konzept der Filmvermittlung verwirklichte Bergala mit der 2007 erschienenen DVD »Le point de vue«. [3] Für Schulen konzipiert, stellt die DVD den Versuch dar, das Phänomen der Perspektive im Film auf Basis von Filmausschnitten und deren Verknüpfung zu vermitteln. [4] Sie enthält Ausschnitte aus 43 Filmen von der Stummfilmzeit bis in die Gegenwart quer durch (fast) alle Kontinente. Die Filmausschnitte können einzeln angesehen werden und sind zudem nach einem komplexen, verzweigten System von Begriffen gruppiert. Dieses System wird in einer beigelegten Übersichtstabelle anschaulich gemacht: sieben Kapiteln mit bis zu neun Unterkapiteln sind dort 51 spezifische Aspekte der Perspektive im Kino zugeordnet. Darüber hinaus werden die einzelnen Begriffe und Verknüpfungen in einem Beiheft knapp erläutert. Die DVD versucht, Begriffe, die das Feld der Perspektive im Kino abstecken, allein durch die Verkettung von Filmausschnitten zu definieren. Im Folgenden möchte ich eine individuelle Navigation skizzieren und exemplarisch erproben, ob Bergalas »Programm« für einen »theoretisch unvoreingenommen« Nutzer funktioniert: Welches Denken entsteht aus der Kombination von Filmausschnitten mit einem Begriff?

[3]»Le point de vue« ist im Rahmen von Eden cinéma erschienen, einer von Bergala herausgegebenen DVD-Sammlung für Schulen.
[4]Für den französischen Begriff Le point de vue verwende ich im Folgenden Perspektive (statt des häufig im Deutschen verwendeten Begriffs point of view). Zwar fasst dieses Wort nicht den konkreten Sinn des französischen Wortes als »Punkt, von dem aus geschaut wird«, aber es enthält die drei Bedeutungsebenen, die hier relevant sind: a) die optische/technische, b) die narrative und c) die weltanschauliche Perspektive.

Die sieben Hauptkapitel, die sich zunächst zur Wahl anbieten, geben bereits einen ersten Eindruck von der Komplexität und dem Facettenreichtum der Fragestellung: 1. PDV et récit global (dt. Perspektive und Gesamterzählung), 2. PDV optique / PDV psychique (dt. optische/psychische Perspektive), 3. Permutabilité du PDV (dt. Austauschbarkeit der Perspektive), 4. Disposition/Attaque (dt. Anordnung/Ansatz), 5. PDV de la transcendance (dt. Perspektive der Transzendenz), 6. PDV et énonciation (dt. Perspektive und Erzählinstanz) [5], 7. PDV sonore (dt. Tonperspektive). Der Vieldeutigkeit des französischen Begriffs Le point de vue entsprechend, führt sie von der konkreten technischen bzw. optischen Gegebenheit des (Kamera-)Standpunktes über die narrative Konzeption einer Erzählperspektive bis hin zum weltanschaulichen (und ästhetischen) Standpunkt. Die Perspektive ist – wie Bergala in einem einleitenden Text erläutert – Schnittstelle von Zuschauer, Figur und Regisseur, von Identifikation, Narration und Schaffensprozess: »Die Frage der Perspektive (point de vue) ist für jede Filmpädagogik zentral. Sie erlaubt es gleichermaßen sich den verschiedenen Ebenen der kinematografischen Form zu nähern (den Einstellungen, den Sequenzen, dem Film insgesamt) wie der Identifikation des Zuschauers mit den Figuren und mit der Fiktion. Sie ist auch eine Frage der Moral: Wie die Perspektive in einem Film behandelt wird, ist ein Kriterium für die Bewertung der Ästhetik des Regisseurs und des Verhältnisses, das er zu seinem Publikum etabliert.« [6]

[5]Der der Narratologie entstammende, insbesondere von Christian Metz für die Filmtheorie entlehnte Begriff enonciation, wird auch mit Enunziation übersetzt. Er meint die Mechanismen, mit denen sich die Aussage- oder Erzählinstanz im Film manifestiert.
[6]»La question du point de vue est essentielle à toute pédagogie du cinéma. Elle permet d’approcher à la fois les différents niveaux de la forme cinématographique (les plans, les sequences, le film dans son entire) et la façon don’t le spectateur s’identifie aux personages et à la fiction. Elle est aussi affaire de morale: le tratement du point de vue dans un film est un critère d’évaluation de l’éthique du cineaste et du rapport qu’il instaure avec son public.« (Alain Bergala: Le point de vue (DVD-Beiheft), S. 3f.)

Für meine individuelle Navigation wähle ich zunächst das letzte Kapitel, da es auf den ersten Blick einen Widerspruch in sich birgt: PDV Sonore (wörtlich: Tonblickpunkt). Das Kapitel gliedert sich in verschiedene Unterpunkte, darunter Son focalisé et focalisant (dt. fokalisierter und fokalisierender Ton) gegenüber Son dispersé et dissocié (dt. zerstreuter und aufgelöster Ton). Der fokalisierte/ende Ton wiederum wird in drei Aspekte untergliedert: Focalisaton (dt. Fokalisierung), PDV subjectiv sonore (dt. subjektive Tonperspektive) und Espace morcelé focalisé par un son (dt. Fokalisierung eines zerstückelten Raums durch den Ton). Wie also definiert Bergala in diesem Kontext den Begriff der Fokalisierung durch den Ton? Durch zwei kurze Filmausschnitte, einer aus Fahrraddiebe (Ladri di biciclette, 1948) von Vittorio de Sica, der andere aus Luchino Viscontis Ossessione (1942). In beiden Ausschnitten steht eine Figur im Mittelpunkt: einmal ein kleiner Junge, der vergeblich versucht, zu seinem von pöbelnden Männern umgebenen Vater zu gelangen, und schließlich weinend dessen Hut aufhebt und sauber klopft; einmal ein Mann, der eine singende Frauenstimme hört und ihr in ein Haus folgt. In beiden Ausschnitten bewirkt der Ton eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Figur, insbesondere auf ihre Gefühle: In Fahrraddiebe treten, als der Vater von den Männern abgeführt wird, die zerstreuten Straßengeräusche hinter der einsetzenden Musik zurück. So wie sich die Nahaufnahme auf das weinende Gesicht des zurückgelassenen Jungen konzentriert, entsteht auf der Tonebene ein subjektiver emotionaler Raum, in dem nur das Schluchzen des Kindes und die Musik existieren. In Ossessione spiegelt das Gesicht des Mannes in Nahaufnahme die Wirkung des Gesangs aus dem Off; die Musik wird damit gleichermaßen zum Ausdruck seines Begehrens und zum Lockruf, dem er folgt. Auch hier dominiert im ersten Teil die Geräuschkulisse (ein vorbeifahrender LKW übertönt die singende Stimme), bevor der in den Vordergrund tretende Gesang eine Art Zoomeffekt auf die Figur erzeugt. [7]

[7]Diesem Zoomeffekt des Tons entspricht auch auf Bildebene ein Zoom auf die offen stehende Tür, aus der der Gesang zu hören ist.
Bergala: Point de vue Bergala: Point de vue

Das Rufen des Kindes geht im Tumult unter.

Bergala: Point de vue Ozu Weiß

Das Geräusch der Straßenbahn tritt hinter der einsetzenden Musik zurück.

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Das Schluchzen des Kindes und die Musik bilden einen imaginären, subjektiven Raum.

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Der vorbeifahrende LKW übertönt die singende Frauenstimme.

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Sirenengesang

Der einfache Vergleich der Filmausschnitte in Hinblick auf Ähnlichkeiten der Tonebene, gibt somit recht schnell eine Vorstellung von dem Begriff der Fokalisierung. Konzentriert man sich in einem zweiten Schritt auf die Unterschiede, so eröffnet sich bereits in der einfachen Anordnung der beiden kurzen Filmausschnitte eine Vielfalt an Möglichkeiten der Fokalisierung durch den Ton, insbesondere im Einsatz von Musik und Geräuschen, von On- und Off-Tönen. Während die Szene aus Fahrraddiebe mit einer komplexen Mischung aus Atmo (Hintergrundgeräusche), isolierten Tönen (Schluchzen des Kindes) und einer Musik aus dem Off ihre Dramatik erhält, wird der im Handlungsraum verortete »Sirenengesang« in Ossessione selbst zum Träger der Handlung und verweist doppeldeutig auf das Begehren des Mannes wie auf das der »lockenden« Frau.

Wenn ich mich nach der Fokalisierung nun der subjektiven Tonperspektive, dem zweiten Unterpunkt des fokalisierten/enden Tons zuwende, so führt dies einerseits zu einer Erweiterung dieses Begriffs und andererseits zu einer Ausdifferenzierung und Präzisierung der verschiedenen Formen des fokalisierten/enden Tons im Vergleich miteinander. Zur subjektiven Tonperspektive sind Ausschnitte aus M (Fritz Lang, 1931) und aus Soy Cuba (Mikhail Kalatozov, 1964) gruppiert, die beide offenbar den subjektiv von einer Figur wahrgenommenen Ton wiedergeben: Es handelt sich also nicht mehr um eine Fokussierung der Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Emotionen und das Handeln einer Figur (Fokalisierung), sondern darum, dass er die akustische Perspektive der Figur teilt. Dabei werden zwei Extreme präsentiert: das Hören eines Lebenden und das Hören im Moment des Todes. In dem Ausschnitt aus Fritz Langs M sieht man zunächst einen Drehorgelspieler und dann das Bild eines Mannes, der sich die Ohren zuhält. Der Zuschauer hört, genau wie der Mann im Bild, den Ton der quietschenden Drehorgel nur in Bruchstücken – je nachdem, ob die Hände des Mannes seine Ohren gerade schließen oder sich von ihnen lösen.

Bergala: Point de vue Bergala: Point de vue
Quietschende Drehorgel Stille.
Bergala: Point de vue Bergala: Point de vue
Quietschen Musik

Eine radikalere Variante der subjektiven Tonperspektive stellt der Ausschnitt aus Soy Cuba dar, in dem Ton (und Bild) die Perspektive eines sterbenden Demonstranten wiedergeben. Das Verzerren des Tones parallel zum Verwischen des Bildes suggeriert den Moment des Todes aus subjektiver Perspektive. Während das Bild danach wieder zu einer objektiven Perspektive auf den feierlichen Leichenzug wechselt, bleibt der Tod/Tote in der Stille der Tonebene präsent.

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Rufe und Wasserwerfer

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Schüsse und Wasserwerfer

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Schüsse werden dumpfer.

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Verzerrte, artifizielle Töne, die langsam verklingen.

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Stille

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Glockenläuten

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Feierliche Musik setzt ein.

Eine letzte Erweiterung erfährt das Konzept des fokalisierten/enden Tons schließlich in dem dritten Unterpunkt, der statt einer Figur den Raum in den Fokus nimmt. Als Beispiele für die Fokalisierung eines zerstückelten Raums durch den Ton dienen Filmausschnitte je aus Fritz Langs M, Kenji Mizoguchis Miss Oyu (1951), Jean-Luc Godards Passion (1982), in denen über eine kohärente Tonebene verschiedene Räume miteinander verknüpft und damit zu einer imaginären Einheit werden.

Die Definition und Differenzierung von Begriffen allein durch die Verknüpfung von Filmausschnitten scheint also – wie das Beispiel des fokalisierten/enden Tones gezeigt hat – im Detail erstaunlich gut zu funktionieren. Wie sieht es aber mit der DVD als Ganzes aus? Was passiert, wenn man durch das komplexe, auch unübersichtliche Netz von Begriffen navigiert und versucht, sich einen umfassenderen Begriff von der Perspektive im Kino zu machen?

Zunächst bewirkt das Wiederauftauchen bestimmter Begriffe und Konzepte in anderen Kontexten eine weitere Ausdifferenzierung bzw. eine Vervollständigung des Eindrucks, den man sich von ihnen gemacht hat. So taucht die Fokalisierung natürlich nicht nur bei der Ton-Perspektive auf, sondern auch im ersten Kapitel PDV et récit global, das sich der Gesamtstruktur des Filmes widmet. Hier kann anhand zweier längerer Filmausschnitte aus Robert Bressons Un condamné à mort s’est échappé (1956) und Eric Rohmers Les nuits de la pleine lune (1984) nachvollzogen werden, mit welchen unterschiedlichen formalen Mitteln es gelingt, die Aufmerksamkeit auch über einen längeren Zeitraum hinweg auf eine Figur zu konzentrieren. Die subjektive Tonperspektive wiederum findet ihre Ergänzung in der subjektiven Bildperspektive (PDV subjective optique), die dem visuellen Medium Film entsprechend eine deutlich größere Ausdifferenzierung erfährt: etwa von der einfachen Entsprechung der Kamera- und Figurenperspektive bis hin zu formalen Markierungen der Subjektivität im filmischen Bild durch Unschärfe, Verzerrung etc.

Bei einem längerem Navigieren sind es aber weniger die Begriffe, als vielmehr die Filmausschnitte selbst, die sich einprägen und ein Eigenleben entfalten: Sie tauchen in unterschiedlicher Länge, unter unterschiedlichen Gesichtspunkten immer wieder in neuer Kombination mit anderen Filmausschnitten auf. Dadurch treten wie unter einer Lupe immer wieder andere Aspekte der Perspektive in den Vordergrund. So wird die Analyse der subjektiven Bildperspektive in Soy Cuba durch die Fokussierung auf die subjektive Tonperspektive ergänzt und erweitert, und sie erhält durch die Zuordnung zum Point de vue de la mort (dt. Perspektive des Todes) eine zusätzliche, metaphysische Dimension. Im Unterschied zu Carl Theodor Dreyers Vampyr (1932), der die Perspektive des Toten im Sarg (als umgekehrten Blick eines Liegenden in den Himmel) physisch und damit zugleich starr/statisch wiedergibt, wird die Bewegung in Soy Cuba sichtbar: Der Tod erscheint hier als eine Metamorphose, die Ton- und Bildebene erfasst. [8] Und der ebenfalls bereits beschriebene Ausschnitt aus Fahrraddiebe taucht in seiner kompletten, langen Version bereits unter PDV psychique (dt. psychische Perspektive) auf. Dieser Kontext verdeutlicht, wie über einen größeren Handlungsbogen hinweg die Identifikation mit den Gefühlen des Jungen aufrechterhalten wird. Die Wahrnehmung bzw. Analyse dieses Ausschnitts, wird dadurch präzisiert, dass später u.a. die Austauschbarkeit der (optischen) Perspektive im Schuss-Gegenschuss-Verfahren und die bereits erwähnte Ton-Fokalisierung gesondert in den Blick genommen werden.

[8]Nach der oben beschriebenen Totenstille leitet Glockengeläut eine feierliche Musik ein, die kombiniert mit einer vom Geschehen (der Begräbnisprozession) vollkommen gelösten Kamera eine Auferstehung inszeniert, ohne sie im Bild explizit zu zeigen.

So setzt sich im Laufe der Navigation ein differenziertes Bild der Filmausschnitte zusammen. Im Lichte unterschiedlicher Begriffe und im Kontext anderer Filmausschnitte treten immer wieder neue Aspekte der Perspektive in den einzelnen Filmausschnitten hervor. Diese entwickeln ein Eigenleben und bilden nach und nach ein imaginäres Repertoire, auf das man bei der Navigation durch das Begriffssystem zurückgreifen kann. Insofern bietet die DVD eine Analyse der einzelnen Filmausschnitte unter dem Gesichtspunkt der Perspektive: Diese Analyse wird nicht als fertiger Text vorgegeben, sondern sie entsteht bei jeder Lektüre immer wieder neu: aus der Beobachtung, die durch die Begriffe gelenkt und die Kombination der Filmausschnitte geschärft wird. Die DVD kann somit als eine interaktive Form des filmvermittelnden Films begriffen werden.

Im Gegensatz zu den Filmausschnitten, die wie oben beschrieben, eine sehr starke Wirkung bei der Lektüre entfalten und damit ein sehr differenziertes Bild der Perspektive im Kino abgeben, tendiert das System der Begriffe dazu, der Erinnerung zu entgleiten. In der unmittelbaren Rückbindung an das Material, erfahren die Begriffe eine permanente Verschiebung und Aktualisierung. Es ist somit weniger ein festgefügtes Begriffssystem, das man mit Hilfe der DVD erlernt, als vielmehr eine differenzierte Wahrnehmung des konkreten Materials. Die Begriffsbildung erscheint somit nicht als das Ziel des Lernprozesses, sondern als ein Mittel der Erkenntnis: Indem die Begriffe auf bestimmte Aspekte verweisen, lenken sie Wahrnehmung und Vergleich der Filmausschnitte, legen wie Schilder oder Markierungen eine Fährte, der man folgen kann, ohne dass Weg und Ziel definitiv vorgegeben wären.

[9]»L’élaboration de ces montages entend faire la preuve que de la pensée – et une pensée aussi fine que la pensée théorique abstraite – peu naître de l’observation des films eux-mêmes et de leur mise en rapport. La différence est de taille entre le désir de prouver des idées déjà acquises en convoquant des extraits forcément complaisants à cet usage, et de celui de chercher de façon ouverte et vivante ce que ces extraits de films (et surtout leur mise en rapport multiple) nous suggèrent comme idées et concepts sur cette delicate et cruciale question du point de vue au cinema.« (Alain Bergala: »Le point de vue« (DVD-Beiheft), S. 9.)

Geht man von der griechischen Herkunft des Wortes »Theorie« (von »théa«: das Angeschaute/ das Anschauen) aus, dann wird verständlich, warum Bergala diese DVD nicht nur als ein Instrument der Filmvermittlung, sondern auch als eine Theorie der Perspektive im Kino verstanden wissen möchte: Theorie bezeichnet in diesem Sinne nicht ein festgelegtes logisch strukturiertes Begriffs- und Gedankensystem, sondern vielmehr einen Prozess der Erkenntnis, der aus der Wahrnehmung entsteht und bei dem nicht der Beweis, sondern die Suche im Vordergrund steht: »Die Ausarbeitung dieser Montagen soll zeigen, dass Denken – und ein so präzises Denken wie die abstrakte Theorie – aus der Beobachtung von Filmen selbst und ihrem In-Beziehung-Setzen resultiert. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Wunsch schon erworbene Ideen zu beweisen, indem man Ausschnitte zitiert, die diesem Zweck zwangsläufig dienlich sind, und dem Wunsch in einer offenen und lebendigen Weise nach Ideen und Konzepten zu suchen, die uns diese Filmausschnitte (und vor allem ihre Verknüpfung) zu dem heiklen und wesentlichen Problem der Perspektive im Kino nahe legen.« [9]

Alain Bergala wird die DVD als Instrument der Filmvermittlung und der Filmwissenschaft am 17. Januar 2009 im Rahmen des Internationalen Bremer Symposiums zum Film vorstellen.

Filmografie